Aus den Feuilletons

Können die Deutschen nicht gönnen?

06:08 Minuten
Menschen in Maske reihen sich zur Impfung ein
Einer nach dem anderen heißt: nicht alle auf einmal. Ein Grund, neidisch zu werden? © imago / fStop Images / Malte Müller
Von Ulrike Timm · 08.05.2021
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Die Pandemie zeigt uns, wie wir wirklich sind. 40 Prozent der Bevölkerung geben offen zu, neidisch auf ihre geimpften Mitbürger zu sein. Dabei wäre es an der Zeit, sich über den Fortschritt beim Impfen zu freuen – nachzulesen im "Tagesspiegel".
"'Impfneid' – gefühlt das beherrschende Wort der Woche", meint die Podcasterin Aline Abboud gegenüber dem Sonntags-TAGESSPIEGEL, und weiter: "Ich finde, dass zu viel über Neid und zu wenig über Optimismus und auch Fortschritt beim Impfen geschrieben und gezeigt wurde. Sprache ist Framing, Sprache löst Emotionen aus."
Die können sehr nach hinten losgehen, wenn 40 Prozent der Befragten neidisch auf ihre geimpften Mitbürger sind. Dass das so ist, will eine Forsa-Umfrage erfahren haben, und deshalb sorgte sich der TAGESSPIEGEL schon am Mittwoch: "Können die Deutschen nicht gönnen? Aus Angst vor dem Impfneid in der Bevölkerung war die Regierung sehr zögerlich, die Lockerungen für Geimpfte schnell umzusetzen – obwohl sie rechtlich geboten sind. Der Neid, er hat soziale Sprengkraft."

"Die Pandemie zeigt uns"

Dagegen konterte die FAZ mit wohlbekannten Argumenten: "Die Mobilität ist das Problem. Wenn wir bei Geimpften die Vorsichtsmaßnahmen aufgeben, öffnen wir den Fluchtvarianten des Coronavirus Tür und Tor." Bleiben wir also tapfer, die wir lockdown-passiv der Impfung entgegendämmern, die – hoffentlich! – letzten Wochen kriegen wir jetzt auch noch rum.
Halb ironisch, halb schulmeisternd wartete die SZ unter der Überschrift "Die Pandemie zeigt uns" mit einer Zusammenschau auf: "Die Pandemie hat uns gezeigt, wie verwundbar wir sind." Das hat Papst Franziskus gesagt. Im Gegensatz zu: "Die Pandemie zeigt uns: Ja, wir sind verwundbar." Das ist von Bundespräsident Steinmeier. Während "Die Pandemie zeigt uns auf eindrucksvolle Art und Weise, dass wir alle zur gleichen Spezies gehören" vom Bestattungsinstitut Wegener in Wülfrath kommt.

Wie wir in Zukunft flirten werden

Sprachlich vielfältiger zeigt sich Künstliche Intelligenz (KI), wenn man sie entsprechend füttert und zum Anbaggern auffordert. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG fuhr auf, was Sprachcomputer an simuliertem Flirt zustande bringen, und auch wenn Philipp Bovermann verkündete: "Die Flirt-Floskeln künstlicher Intelligenzen weisen in eine goldene Zukunft", sind die Sprüche, die die KI da loslässt, noch, sagen wir: ausbaufähig.
Bovermann bringt Beispiele: "Ich verliere meine Stimme bei all dem Geschrei, das deine Hotness in mir auslöst." Oder: "Du siehst aus wie Jesus, wenn er Butler in einer russischen Villa wäre." Immerhin, die blumigen Anmachsprüche der KI sind nicht 0815, auch wenn Mensch bei Mensch so wohl nicht landen könnte.
Bisweilen allerdings, je nach Programmierung, geht die KI die Chose auch sehr pragmatisch an. Babbage etwa empfiehlt, gleich zum Punkt zu kommen: "Willst du mich heiraten?" Wogegen da Vinci – so heißt eine andere flirtende Maschine – erst mal bodenständig abfragt: "Magst du Pfannkuchen?" Kontern wir mit einer Überschrift des TAGESSPIEGELS, die da hieß: "Das mach ich nur aus Liebe".

Hannah Arendt trifft auch heute noch einen Nerv

"Was würde Hannah Arendt dazu sagen?", fragte die ZEIT, und damit sind wir nun auf einem ganz anderen Dampfer. Die ZEIT widmete der Denkerin, die sich selbst eher als politische Theoretikerin denn als Philosophin sah, einen ganz jubiläumspflichtfreien Schwerpunkt.
Denn Hannah Arendt ist verblüffend aktuell, sie schrieb über Freiheit und Menschenrechte, sie erkannte die Selbstzerstörungskräfte der Demokratie und beklagte unseren Umgang mit der Natur. "Warum Hannah Arendt stets einen Nerv trifft, ist leicht zu erklären", so Thomas Assheuer in der ZEIT:
"Sie war eine Denkerin der Befreiung und betrieb Philosophie nicht als strenge Wissenschaft, sondern als leidenschaftliche Weltdeutung. Kühn spekulierte sie sich durch die Jahrtausende und stillt bis heute das Bedürfnis nach der großen Erzählung. Altmodisch ausgedrückt: Arendt beschrieb die Stellung des Menschen im Kosmos. Sie dachte und schrieb sternenklar, und ein nüchternes Pathos atmen ihre Sätze auch."
Die Aufregungslage 2021 etwa hat Hannah Arendt schon 1958 präzise analysiert, im Schwerpunkt der ZEIT fand sich dieses Zitat von ihr: "Ein merkliches Abnehmen des gesunden Menschenverstandes und ein merkliches Zunehmen von Aberglauben deuten darauf hin, dass die Gemeinsamkeit der Welt abbröckelt."

Sophie Scholl auf Instagram

"Heute live auf Instagram: Sophie Scholl", titelte die WELT. Die von den Nationalsozialisten ermordete Widerstandskämpferin wäre dieser Tage 100 Jahre alt, nun soll sie auf Instagram "ihre letzten Lebensmonate posten". Über viele Monate sollen Hunderte von Postings von "ihr selbst" Einblick und Aufklärung zu Sophie Scholl bieten, die zwar längst zur Ikone des Widerstands gegen Hitler wurde, die aber jüngst auch in erschreckender Verzerrung die Querdenken-Demonstranten für sich vereinnahmten.
"Geht das, die Geschichte der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl über Clips zu erzählen, in simulierter Echtzeit?", fragte der TAGESSPIEGEL durchaus fasziniert von dieser Aktion und gespannt darauf, ob das Konzept aufgehen wird.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG bleibt skeptisch, fürchtet, dass die Instagram-Idee, die sich natürlich vor allem an junge Menschen wendet, das Bild Sophie Scholls verzerren und verzeichnen könne "mit der Idee, dass sie unsere Freundin im Jetzt sein könnte, die auf unsere Kommentare zu ihren Posts antwortet".
Julia Encke empfiehlt lieber die ausführliche Biographie von Robert M. Zoske, der akribisch den Lebensweg von Sophie Scholl nachzeichnet. Darin heißt es: "Ihre Stärke liegt gerade darin, als widersprüchlicher, fragender, zögernder Mensch hineingewachsen zu sein in die Klarheit: Ich schweige nicht."
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