Aus den Feuilletons

In die Welt geworfen und dem Leben ausgesetzt

Badefreuden in der Bucht bei Qingdao in Chinas Shandong Provinz. Tausende Feriengäste am Strand von Qingdao am 01.August 2009
Überbevölkerung ist nur für uns selbst ein Problem - die Erde juckt das nicht, meint die "Welt". © Wang Xizeng/dpa
Von Gregor Sander · 19.02.2019
In Indien klagt ein Mann vor Gericht, weil ihn seine Eltern ohne seine Zustimmung gezeugt und damit zum Existieren gezwungen haben. Die "Welt" macht sich dazu weiterführende Gedanken. Trauriges Fazit: Wir sind der Erde völlig egal.
"'Vice' ist nicht viel mehr als ein Stück moralisierender Weltgeschichte mit den Mitteln des Kurzzeitgedächtnisses" poltert Bernd Rebhandl in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Auch wenn das englische Wort "Vice" übersetzt "das Laster", "die schlechte Angewohnheit" oder "die Schraubzwinge" heißen kann, meint der FAZ-Autor natürlich den in dieser Woche anlaufenden Kinofilm, über den ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten.
"Cheney ist ein Mann, der Geheimnisse liebt. Der Film 'Vice' beruft sich also darauf, eine wahre Geschichte um das zu ergänzen, was die Historiker vielleicht eines Tages in heute noch unzugänglichen Aufzeichnungen finden werden – Gesprächsnotizen, Reflexionen, Tagebücher aus den innersten Zirkeln der Macht. Vorerst muss das alles aber durch Fiktion ersetzt werden."

Kinofilme sind keine Geschichtsbücher

Susan Vahabzadeh von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG sieht darin kein Problem:
"Vor ein paar Jahren hätte jeder, der dem Kino verbunden ist, ohnehin gesagt, dass Filme keine Lehrveranstaltung sind. Wer es genauer wissen will, sollte ein Geschichtsbuch lesen."
Oder den Berliner TAGESSPIEGEL! Denn der hat den verantwortlichen Regisseur Adam McKay interviewt, der erklärt, dass er sogar das Herz des Vizepräsidenten zeigen konnte, weil er herausfand, "dass Cheneys Herz zum Zeitpunkt der Transplantation doppelt so groß war, wie das Herz eines normalen Menschen und voller Narben, wegen der vielen Infarkte. So sieht das Herz der Macht aus", meint McKay, was man natürlich für eine wenig originelle Herangehensweise halten kann.

Über eine Welt ohne Menschen

Deutlich witziger sind da folgende Zeilen aus der Tageszeitung DIE WELT:
"Ein 27-jähriger Mann aus Mumbai machte zuletzt Schlagzeilen, weil er seine Eltern verklagte, weil diese ihn gegen seinen Willen gezeugt und geboren hätten." Marlen Hohbrack erklärt auch die Beweggründe des klagenden Kindes. "Seine Eltern hätten ihn zur Verwirklichung ihres Glücks bekommen, in die Welt gezwungen, wo er sich nun dem Druck, der auf dem Individuum laste, stellen müsse. Eine gute Ausbildung und Karriere machen, zum Beispiel."
Für Hohbrack ist das ein deutliches Zeichen von Antinatalismus, also einer Bewegung, die glaubt, dass die Erde ohne ihre menschlichen Bewohner besser dran wäre. Die WELT-Autorin befragt das Christentum, den Hinduismus und Arthur Schopenhauer, um zu folgendem Ergebnis zu kommen:
"Dieser Felsbrocken, der durchs Weltall rast, ist uns gegenüber doch völlig indifferent. Er könnte nicht weniger tangiert sein von der Frage, ob auf ihm eine Million oder zehn Milliarden leidlich intelligente Affen hocken. Die Erde und unsere Existenz darauf sind uns selbst ein Problem."

Nachrufe auf einen genialen Kreativen

Für Karl Lagerfeld war diese Existenz ganz sicher kein Problem. Die TAZ zitiert den gestorbenen Modedesigner mit den Worten: "Ich liebe die Idee, mehr als eine einzige Person zu sein." Das war er dann ja auch, wie Brigitte Werneburg zusammenfasst:
"Karl Lagerfeld hasste Routine. Auch deswegen war er ein Hans Dampf in allen Gassen. Der Modedesigner glänzte als vielbeschäftigter Illustrator, als Fotograf lieferte er nicht nur für die Kampagnen der von ihm geführten Modehäuser die Bildstrecken, sondern noch weitere für die internationalen Hochglanzmagazine."
Marion Löhndorf schwärmt in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG: "Lagerfelds innovative Brillanz lag im Einzelnen – er ließ Säume unversäubert, kehrte Pelze von innen nach außen, ließ Models, damals undenkbar, in Tennisschuhen auftreten – aber er strebte nicht nach einem eigenen Look. Sein Stil ist eher: ein neuer Frühling, eine neue Liebe."
Von nun an wird der Frühling also ohne den gebürtigen Hamburger auskommen müssen, und auch wir verbeugen uns mit einem letzten Zitat aus der TAZ, in dem festgestellt wird:
"Dass Karl Lagerfeld zu den wenigen bedeutenden Menschen gehört, die ihrer eigenen Bedeutsamkeit nie auf den Leim gingen ('außer zeichnen, ein bisschen reden und die Eisschranktür aufmachen kann ich nichts')."
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