Aus den Feuilletons

Ich akzeptiere nur mich

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Illustration von Personen mit leeren Sprechblasen, die in ihre Smartphones starren.
Lifestyle-Symbole, Sprechweisen und Attitüden als verbindendes Element beklagt Jan Grossarth – er vermisst Vertrauenswerte. © imago / Ikon Images / Sam Brewster
Von Ulrike Timm · 14.06.2021
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Was ist die größte Gefahr für die bürgerliche Freiheit? Soziale Medien, schreibt Jan Grossarth in der "Welt". Er fragt sich, ob wir so "vollständig individualisiert" würden, dass wir nur noch Repräsentation akzeptierten, die uns am ähnlichsten sei.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG unterstützt unsere Frühsommerlaune: "Glücklich bis ans Lebensende", heißt es in der Fast-post-Corona-Rubrik "Folge 21" – Michael Maar sucht in letzten Sätzen großer Bücher nach Bezügen zum Hier und Jetzt und beschert uns Kurzzitate von "Ich verstehe die Welt nicht mehr" aus Hebbels "Maria Magdalena" bis hin zu "Und es war alles, alles gut" aus Eichendorffs "Taugenichts". Nun ja, Ersteres stimmt immer, Letzteres fast nie, aber vergnüglich zu lesen sind die Zeilen doch.
"Du musst nicht traurig sein", heißt es auf der gleichen Seite der SZ – hier nimmt Marlene Knobloch deutsche Nachwuchsakademiker in die Pflicht, die ihr ein bisschen zu vernehmlich jammern. Natürlich stimme es, dass am deutschen Hochschulsystem allerhand zu verbessern sei, wenn Wissenschaftler sich viele Jahre von Befristung zu Befristung hangeln und dann mit Ende 40 so viele von ihnen vor dem Nichts stünden. Allerdings, so die SZ:
"Die Karriere als Wissenschaftler war schon immer eine unsichere Angelegenheit. ‚Das akademische Leben ist ein wilder Hazard‘, schrieb Max Weber vor 100 Jahren. (…) Aber die von dieser Generation ständig eingeforderte Garantie auf Rente, Planbarkeit, Sicherheit – wo gibt es sie? Künstler networken von Ausstellung zu Ausstellung, Verlagen ging es schon mal besser, Schriftsteller, in den Feuilletons gefeiert, mit prekärem Einkommen, ziehen freiwillig monatelang nach Rottweil, um dort als Stadtschreiber zu arbeiten".

Gefährdet durch die sozialen Medien

Ganz großen Dampf lässt Jan Grossarth in der WELT ab, er meint, die bürgerliche Freiheit würde womöglich gar nicht so sehr von Rechten oder Linken gefährdet, sondern sie würde oft genug in den sozialen Netzwerken regelrecht untergehen.
Zu viele schrien so sehr "Ich", dass sie im Zweifelsfall nur noch ihresgleichen akzeptierten. "Ist es denkbar, dass wir so vollständig individualisiert sein werden, dass wir wirklich nur noch politische Repräsentanten akzeptieren, die so voll und ganz ‚Ich‘ darstellen und nichts sonst? In denen wir unsere Identität an gemeinsamen Lifestyle-Symbolen, Sprechweisen und Attitüden wiederzuerkennen glauben, aber nicht mehr an gemeinsamen, verbindenden Vertrauenswerten, an gemeinsamer Geschichtlichkeit?"

"Rheingold" gegen Goldrausch

"Töne aus einer anderen Welt" hört in der SZ Harald Eggebrecht, wenn Tabea Zimmermann Bratsche spielt. Das geht ihm nicht alleine so. Jetzt erhält die Musikerin – coronös verspätet – den ihr zuerkannten Ernst-von-Siemens-Musikpreis. Der Pandemie und dem ausgesetzten Konzertreise-Zirkus konnte Zimmermann für sich selbst durchaus Gutes abgewinnen, sie habe sich die Energie nicht rauben lassen und freue sich jetzt auf den einsetzenden Neuanfang: "Es ist ein enorm großer Hunger nach Musik da".
Den kann man in Berlin gleich mehrfach stillen, in der Deutschen Oper wie in der Staatsoper gingen Premieren über die Bühne, die von allen Feuilletons beachtet werden. Wobei nach Meinung von Eleonore Büning in der NZZ gilt: "Das alte Rheingold schlägt den kalifornischen Goldrausch".
Immerhin, Puccinis selten gespielte Oper "Fanciulla del West" lieferte in der Inszenierung von Regisseurin Lydia Steiner reichlich rauchende Colts, "in diesem Wildwest-Drama haben alle eine extrem kurze Zündschnur" – das schreibt der TAGESSPIEGEL.
Das Bühnenbild zu Wagners "Rheingold" bestimmt übrigens ein mächtiger Konzertflügel, er taugt zum Ringe wie Ränke schmieden und liefert fürs Vögeln in allen denkbaren Konstellationen die stabile Unterlage. Was den TAGESSPIEGEL zu einer energetischen Titelzeile inspiriert, sie heißt: "Wenn Götter in die Tasten hauen".
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