Aus den Feuilletons

"Goethe hatte nicht einen einzigen Follower"

Facebook-Anmeldemaske auf einem Smartphone, während auf dem Bildschirm im Hintergrund die Startseite für den Kurznachrichtendienst Twitter zu sehen ist.
Moderne Literatur entsteht nicht in Büchern, sondern bei Twitter und Facebook. © dpa / picture alliance / Uwe Zuchhi
Von Hans von Trotha · 24.06.2015
"Dem modernen Poeten reichen 140 Zeichen", lernen wir in der "Welt", die ihren Bericht vom Berliner Poesiefestival in das Fazit münden lässt: "Klicken ist das neue Dichten."
"Wer kontrolliert den Kontrolleur?", fragt Johannes Boie in der SÜDDEUTSCHEN – und meint damit nicht etwa den künftigen Berliner Schloss-Intendanten, den "Heiligen Neil MacGregor" (Die WELT), von dem die FAZ anlässlich seiner Queen's Lecture schwärmt, er sei nicht nur ein "Virtuose der Bilddeutung", sondern könne auch noch "selbstverständlich in jedem Augenblick von dieser Fähigkeit Gebrauch machen".
Und Johannes Boie meint auch nicht den von der WELT als potentielles "Alleinstellungsmerkmal" bezeichneten neuen Berliner Chefdirigenten Kirill Petrenko, von dem Christine Lemke-Matwey in der ZEIT meint, er sei "der siebte Chefdirigent in der Geschichte der Berliner Philharmoniker", aber "der erste, der (eine) Zeitenwende mit Seele zu füllen hat".
Und Johannes Boie meint auch nicht die Überwacher der Geheimdienste, zumal die ja sowieso notorisch überschätzt werden - in der FAZ zitiert Jürg Altwegg anlässlich aktueller Spionage-Nachrichten in Frankreich die Zeitung Libération mit dem Resümee:
"Ein Abonnement von 'Libé' wäre die Amerikaner billiger gekommen."
– Nein, Johannes Boies Frage "Wer kontrolliert die Kontrolleure" betrifft uns alle viel direkter. Sie trifft ins Herz des Alltags der meisten von uns. Es geht um die Kontrolleure in der Zentrale von Facebook.
"Es ist Zeit, dass die Regeln geklärt werden", findet Boie. Facebook habe längst Aufgaben übernommen, die "bislang Verlage übernommen haben, nämlich das institutionell kontrollierte Veröffentlichen von Informationen. Facebook muss politische und gesellschaftliche Aufgaben bewältigen", schreibt Boie und fragt besorgt:
"Weiß Facebook um die eigene gesellschaftliche Verantwortung? Ein Vorbild könnte absurderweise ein anderer Technologiekonzern sein: Google sah sich vor Jahren mit einem europäischen Gesetzesurteil konfrontiert, das den Konzern dazu zwang, sich mit der Frage von Vergangenheit in einer Welt zu beschäftigen, in der alles speicherbar ist."
Taylor Swift besiegt Apple mit einem Tweet
Auch der Apple-Konzern ist ja gerade in die Knie gezwungen worden, ein bisschen zumindest. Jens Balzer meint in der BERLINER ZEITUNG:
"Apple ist es innerhalb weniger Tage gelungen, sich als besonders künstlernaher Konzern zu präsentieren und zugleich auf dem Weg zum knallharten Monopol ein gutes Stück voranzukommen."
Christoph Amend erklärt unter dem Titel "iSorry" in der ZEIT-Beilage Christ & Welt ausführlich, worum es geht. Der Streamingdienst Apple Music wollte trickreich bei den Musikerhonoraren sparen. Dagegen hat sich Taylor Swift verwahrt. Und siehe da:
"In dieser Woche haben wir gelernt, dass die Macht einer 25-jährigen Musikerin aus Pennsylvania mittlerweile so groß ist, dass selbst Apple vor ihr einknickt."
Amend bemerkt auch:
"Bereits in den vergangenen Monaten konnte man registrieren, dass Google und Facebook begonnen haben, sich Medienunternehmen zu nähern, die für Qualitätsjournalismus stehen. Offenbar scheinen diesen Konzernen hochwertige Inhalte nicht gleichgültig zu sein, zumal Google und Facebook weltweit im Wettbewerb untereinander stehen."
"Vergessen Sie endlich Goethe, Heine und Mann"
Wie sehr dieser Wettbewerb von Google, Facebook, Twitter, Apple unser Leben längst verändert hat, illustriert Michael Wolfs Bericht vom Berliner Poesiefestival in der WELT. Fazit:
"Klicken ist das neue Dichten".
Wolf zitiert den New Yorker Autor Kenneth Goldsmith.
"Der bezeichnet sich selbst nicht mehr als Dichter, sondern als Textverarbeitungssystem."
Moderne Literatur, sagt Goldsmith, entstehe im Internet:
"Worte werden nicht geschrieben, um gelesen zu werden, sondern um geteilt, bewegt und manipuliert zu werden."
"Wozu noch diese klobigen Bücher schreiben?", räsonniert da WELT-Autor Michael Wolf.
"Dem modernen Poeten reichen 140 Zeichen. Vergessen Sie endlich Goethe, Heine und Mann. Die hatten nicht einen einzigen Follower."
Und hätten entsprechend nicht viel gerissen in der digitalen Welt. Denn die Einheit, in der da Macht bemessen wird, ist ebendies: die Zahl der Follower. Taylor Swifts Apple-Schelte folgten laut Christ & Welt allein auf Twitter 60 Millionen. Womit wir wieder bei der Eingangsfrage nach den Kontrollen wären. Bei Facebook hätte die der Kontrolleur, rein theoretisch, einfach löschen können.
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