Aus den Feuilletons

Gleich mehrere Interpretationen der Kanzlerin

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sitzt im Raum mit den Verhandlern der CDU in Berlin nach weiteren Sondierungsgesprächen von CDU, mit CSU, FDP und Grünen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sitzt im Raum mit den Verhandlern der CDU in Berlin nach weiteren Sondierungsgesprächen von CDU, mit CSU, FDP und Grünen. © dpa-Bildfunk / Michael Kappeler
Von Burkhard Müller-Ullrich · 15.11.2017
"Das Ende von Merkel!" oder "Mit Merkel kann es gar nicht weitergehen!" - So in etwa klingen die Experten von FAZ und ZEIT und übertreffen sich in der Formulierung der Begründungen. Allerdings nicht ohne "Aber".
Noch sind die jamaikanischen Schwampel-Verhandlungen in vollem Gang, aber das Feuilleton weiß schon: Es ist aus! "Die Ära Merkel geht zu Ende", schreibt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG der emeritierte Kölner Soziologe Wolfgang Streeck. Und in der ZEIT stellt sein in Kassel lehrender Kollege Heinz Bude fest, "daß die Ära von Angela Merkel vorbei ist, jedenfalls wenn man darunter die Dominanz eines Politikstils des Abschleifens von Ecken und Kanten, des Ausgleichens widerstrebender Ziele und der pragmatischen Bewältigung unversehens auftauchender Probleme und Gefahren besteht."

Die richtige Brille

Das ist nett gesagt, aber wer die rosafarbene Muttibrille ab- und stattdessen das scharfe Rückblicksglas von Wolfgang Streeck aufsetzt, der kann von pragmatischer Problembewältigung nicht viel erkennen. Stattdessen: eine Folge jäher Positionswechsel, die den Vertrauenshaushalt des Staates extrem belasten. Streeck lässt die wesentlichen und wohlbekannten Punkte vom Atomausstieg bis zur Grenzöffnung Revue passieren und wendet sich dann einem gerade für uns Journalisten heiklen, ja schmerzhaften Aspekt zu, und der Presseschauer liest diesen außergewöhnlich langen Text, der eine ganze Zeitungsseite füllt, geradezu mit angehaltenem Atem.
Zum einen, weil hier im Feuilleton der FAZ der frühere Feuilletonchef der FAZ, Patrick Bahners, für einen vor Jahresfrist gegen Streeck und pro Merkel geschrieben Artikel gewissermaßen zurückgeohrfeigt wird, und zwar mit der Formulierung, er habe da "eine für die Hochzeit der Ära Merkel nicht untypische Interpretation der Rolle des politischen Journalisten als Panegyriker" an den Tag gelegt. Zum anderen, weil er den ganzen Affentanz unserer "substanzentleerten und deshalb sentimentalisierungsbedürftigen deutschen Postdemokratie" um Willkommenskultur und ihr Gegenstück, die AfD, in der gruseligen Einhelligkeit von Medien, Schulen, Universitäten, Jugendverbänden, Kulturschaffenden und Klerikern aller Art als intellektuellen Totalausfall kritisiert.

Die wichtigste Erinnerung an die Ära Merkel

"Niemand fragte", so Wolfgang Streeck, "wo jene von Habermas so treffend bezeichnete 'Nervosität der Intellektuellen' geblieben war, die sich doch immer dann kräftig rühren müsste, wenn eine Öffentlichkeit wie ein Tanzbär am Nasenring regierungsamtlicher Wahrheiten durch die Manege gezogen wird und sich ziehen läßt. Nirgendwo im heutigen Westeuropa, nicht in Frankreich, nicht in Großbritannien, nicht in Italien, wäre es vorstellbar, dass "alle verantwortlichen Kräfte" bei Strafe des Ausschlusses aus der öffentlichen Kommunikation verlangen würden, offenkundigen Unsinn wie den zu bekennen oder doch unwidersprochen zu lassen, dass eine Million unkontrollierter Immigranten als jährlicher Normalfall zu 'schaffen' sei. Daß diese Art von Dressurakt zeitweise im demokratischen Deutschland funktionieren konnte, könnte in einigen Jahren die wichtigste Erinnerung an die Ära Merkel sein."

Alle heiklen Themen wurden zu AfD-Themen erklärt

Der Autor analysiert allerdings auch genau, wie dieser Dressurakt funktioniert, nämlich indem alle heiklen Themen zu AfD-Themen erklärt wurden, über die man nicht sprechen durfte. "Antifa als politische Bazooka", nennt das Streeck und führt aus:

"Dabei speist sich die Existenz der AfD als Partei mehr als erwartet aus der Substanz von CDU und CSU. Um die Blutung zu stoppen, hatte Merkel die wichtigste moralische Ressource des Landes, das Erschrecken vor seinen historischen Verbrechen, ebenso bedenken- wie letztlich erfolglos eingesetzt – verbraucht zu Zwecken politischer Machterhaltung um den Preis einer Trivialisierung von Faschismus und Rassismus."
Werfen wir an dieser Stelle noch mit der WELT einen Blick auf die AfD selbst, und zwar - Feuilleton verpflichtet - auf deren Kulturpolitik. Die Zeitung hat sich die Mühe gemacht, verschiedene Vorstöße von AfD-Politikern auf Länderebene zu recherchieren. Wie zu erwarten, haben sie hier und da gegen Theaterprojekte oder Filmvorführungen, die ihnen zu links erschienen, protestiert. Bloß: wenn irgendwo eine rechte Veranstaltung stattfindet, gehen die anderen Parteien mit allen parlamentarischen Mitteln dagegen vor. Darüber schreibt die WELT natürlich keine süffisanten Artikel.
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