Aus den Feuilletons

George Steiners Kunst des frei schwebenden Essays

27:50 Minuten
Porträt von George Steiner
Vor allem jüdische Exilanten prägten den Literaturkritiker George Steiner, lesen wir in der "Welt". © Leonardo Cendamo/Leemage/imago images
Von Ulrike Timm · 04.02.2020
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Er habe der Welt die Chance gegeben, sich selber zu verstehen, heißt es in der „SZ“ über den Literaturkritiker George Steiner, der mit 90 Jahren gestorben ist. Nicht die dicken Bücher seien seine wahre Stärke gewesen, sondern seine Aufsätze.
"Am Montag hat der letzte Gast das Kaffeehaus Mitteleuropa verlassen", beginnen wir gleich mit dem vielleicht schönsten Satz, um den großen Literaturkritiker und Universalgelehrten George Steiner zu würdigen. Er stammt von Willi Winkler und steht in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
Die WELT fasst das Wesen des großen Intellektuellen, der mit 90 Jahren gestorben ist, so zusammen: "Um die Größe von George Steiner zu verstehen, muss man sehen, in welcher einzigartigen Geisteswelt er zu dem wurde, der er war: In ihr kamen kontinentaleuropäische Sensibilitäten für Metaphysik, Sinn und Bedeutung mit englischer Empire-Strenge und analytischer Skepsis zusammen. Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler, vor allem aber die jüdischen Exilanten prägten ihn."

Kunst des freischwebenden Essays

Dreisprachig aufgewachsen – Deutsch, Englisch, Französisch – hatte Steiner zusätzlich zu seinem Lebensfach, der Literatur, auch Mathematik und Physik studiert: Was für ein Überblick, ein geradezu schwindelerregendes geistiges Fundament. "SZ"-Autor Willi Winkler, der ihn als letzten Kaffeehausgast Mitteleuropas vorstellte, sieht seine wahre Stärke dennoch nicht in dicken Büchern wie etwa "Nach Babel" - mit dem Steiner die Komparatistik begründete - sondern in der Kunst des freischwebenden Essays.
"Er gab der Welt nach Babel die Chance, sich selber zu verstehen", heißt es in der SÜDDEUTSCHEN, und dazu gehörte eben auch eine hintergründige Betrachtung zu einem Buch wie "Zen oder die Kunst, ein Motorrad zu warten", das Steiner zum modernen "Moby Dick" erheben konnte. In der WELT lesen wir dazu: "Unter Briefmarkensammlern seien eben diejenigen, die Briefe schreiben, nicht immer willkommen, kommentierte Steiner trocken die Kritik, die ihm sein pluralistischer Meta-Blick und sein Verständnis für unterschiedliche Erkenntnisformen einbrachte."
Und Jürgen Kaube weist in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN (Printausgabe) auf George Steiners "polemischen Traum von einer Welt primärer Kunsterfahrung ohne Sekundärliteratur" hin. Im Schachspiel jedoch erreichte George Steiner kein professionelles Niveau – und das hat er stets bedauert. Das erfahren wir in der WELT über den Intellektuellen, vor dem sich alle Feuilletons verneigen.

Hip-Hop-Hochburg Bietigheim-Bissingen

Wir aber schweifen weiter, und jetzt kann eigentlich nur der intellektuelle Absturz kommen. Der führt uns in die Hip-Hop-Hochburg Bietigheim-Bissingen. Weder vom Hip-Hop noch von Bietigheim-Bissingen nehmen Großgeister gemeinhin Notiz, aber der TAGESSPIEGEL hat sich auf eine schöne Spurensuche nach Schwaben begeben - an den Ort, aus dem allein drei der erfolgreichsten Rapper kommen: Bausa, Shindy und RIN.
"Wo immer sich, poptheoretisch betrachtet, eine Szene herausbildet, die Großes bewirkt und weit über den eigenen Kosmos hinausstrahlt, lassen sich Kristallisationspunkte ausmachen", so beschwurbelt der TAGESSPIEGEL das Phänomen vom Hip-Hop in Bietigheim-Bissingen.
RIN, der junge Rapper, sagt das viel schöner: "Ist ein Vorteil, wenn man aus der Kleinstadt kommt. Man hat garantiert Freunde, die Tischler, Schreiner und Maurer sind." Es ist vielleicht etwas waghalsig gemutmaßt – aber dieser schlichte, kluge, bodenständige Satz hätte einem George Steiner womöglich gefallen.

Wie der Künstler Simon Weckert Google Maps manipulierte

"Der simulierte Stau": Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG staunt über den Berliner Künstler Simon Weckert, der womöglich mit einem Bollerwagen und 99 Smartphones Google Maps manipuliert hat. Jedenfalls zeigte die App einen Stau, schaltete auf Rot und leitete die Autofahrer um. Was die App zeigt, nehmen wir für Wirklichkeit, schlussfolgert die SÜDDEUTSCHE.
Es ist eine eindrucksvolle Aktion, bitte trotzdem nicht gleich nochmal versuchen. Nicht wegen der raffinierten Täuschung von Google Maps, sondern wegen des womöglich echten kleinen Staus, den so ein vollgepackter Bollerwagen, der sich selbstbewusst straßenmittig hält, nach sich zieht.
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