Aus den Feuilletons

Geflüchtete mit Nervenschäden und Hautverätzungen

Sie sehen das Schiff "Iuventa" der Nichtregierungsorganisation Iuventa Jugend rettet (undatierte Aufnahme).
Das private deutsche Rettungsschiff "Iuventa" © dpa-Bildfunk / IUVENTA Jugend Rettet e.V.
Von Tobias Wenzel · 21.07.2018
"Die Zeit" hat mit einem Pro und einem Contra zur privaten Seenotrettung eine Diskussion anregen wollen, aber einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Ein solcher privater Retter kommt in der "Süddeutschen Zeitung" zu Wort und schildert drastische Szenen auf den Flüchtlingsbooten.
"Der Mensch ist ein endliches, unvollkommenes und darum irrtumsanfälliges Wesen. Wir lassen uns irreführen und täuschen", schrieb der Philosoph Anton Hügli in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Täuschung und philosophische Gedanken zogen sich überhaupt durch die Feuilletons dieser Woche.

Toxische Atmosphäre in Kinderzimmern

"Alles Unheil kommt von einer einzigen Ursache, dass die Menschen nicht in Ruhe in ihrer Kammer sitzen können." Gerhard Matzig führte in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG diesen Satz des französischen Philosophen Blaise Pascal an, weil ihn eine umfangreiche Studie widerlegt: Wir verbringen sowieso schon 90 Prozent unserer Zeit in geschlossenen Räumen. Und das ist unser Unheil. Wer glaubt, in der Großstadt sei die Luft drinnen weniger schädlich als die draußen, täuscht sich, so Matzig: "Die von Dieselschwaden geschwängerten Innenstädte können gegen die toxische Atmosphäre von so manchem Kinderzimmer am Stadtrand fast schon als Luftkurorte gelten."
Christian Geyer zitierte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG den Philosophen Odo Marquard: "Man entkommt dem Tribunal, indem man es wird." Geyer wandte den Satz auf Twitter-Nutzer an: "Um die Anerkennung, auf die man aus ist, digital handhabbar zu machen, wird die Welt auf den binären Code von Pro und Contra gebracht. Von hier aus lässt sich das jakobinische ABC einer digitalen Schreckensherrschaft ausbuchstabieren. Begriffe wie Menschenwürde oder Staatsversagen, aber auch Moral, Humanität oder Weltoffenheit, die in der analogen Welt nicht für sich selbst sprechen, sondern in ihrer konkreten Geltung von politischer und rechtlicher Deutung abhängen, gewinnen in digitaler Dynamik eine unbedingte Eindeutigkeit."

Manipulativer Tweet eines "BILD"-Reporters

Geyer erinnerte an den "manipulativen Tweet eines 'Bild'-Reporters", der einen ironischen Zwischenruf von Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth ironiefrei twitterte: "Roth war von Alexander Dobrindt polemisch gefragt worden, wie viele von den '70 Millionen' Flüchtlingen sie als Grüne denn aufnehmen wolle, und Roth hatte sarkastisch zurückgegeben: 'Alle, Herr Dobrindt!' Rechte Portale, durch den Tweet aufmerksam geworden, griffen die Aussage skandalisierend auf, sendeten den Screenshot weiter, und Dobrindt ließ es sich nicht nehmen, Tage später im Parlament auf groteske Weise wieder darauf zurückzukommen: 'Sie wollen alle Flüchtlinge aufnehmen, die auf der Welt unterwegs sind!'" Und der Leser des Artikels konnte denken: Dobrindt entkommt dem Tribunal, indem er es wird.
Apropos Flüchtlinge: DIE ZEIT hat mit einem Pro und einem Contra eine Diskussion über private Seenotrettung anregen wollen aber einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Nun hat sich die Wochenzeitung für Fehler entschuldigt. Michael Hanfeld nahm allerdings in der FAZ die Autorin des Kontra-Artikels, Mariam Lau, in Schutz, auch gegen nicht namentlich genannte Journalisten von Presse und öffentlich-rechtlichem Rundfunk. Sie hätten den Artikel gar nicht richtig gelesen, sondern sich vom Schein der Überschrift verleiten lassen. Es sei falsch und "ehrabschneiderisch" zu behaupten, die Autorin habe sich generell gegen Seenotrettung ausgesprochen und halte es für vertretbar, Menschen ertrinken zu lassen: "Das hat Mariam Lau mitnichten geschrieben, sie hat vielmehr das zynische Kalkül der Schlepperbanden thematisiert."

Drastische Bilder zeigen die Situation auf Flüchtlingsbooten

Als Kapitän eines privaten Schiffs bis zu dessen Beschlagnahmung hat Benedikt Funke Flüchtlingen im Mittelmeer das Leben gerettet. Zu sehen im Kinodokumentarfilm "Iuventa". Im Gespräch mit der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erinnerte sich Funke: "Manche der Geretteten konnten nicht mehr gehen. Sie hatten auf den völlig überfüllten Booten gekauert, konnten sich aber kein bisschen bewegen und bekamen dadurch Nervenschäden in den Beinen. Das ist im Film drin. Man sieht dort allerdings nicht, dass sie teilweise auch in die Boote urinieren und sich übergeben mussten. Oft schwamm da eine ätzende Mischung aus Salzwasser und Benzin und hat den Leuten die Haut verätzt. Wir haben Michele, dem Regisseur des Films, gesagt, dass wir solche drastischen Bilder nicht wollen, die das Leid und die Not ausstellen. Mittlerweile bin ich persönlich der Ansicht, wir müssen das erzählen. Denn offenbar glauben immer mehr Menschen, wenn da Afrikaner auf den Booten sitzen, dann seien das alles 'Asyltouristen'." Wenn der Schein trügt …
Kommen wir noch mal zum Schein-und-Sein Experten, dem Philosophen Anton Hügli, zurück. "Wenn Menschen nicht daran gehindert würden, rational zu sein, wären sie an sich durchaus rationale Wesen", schrieb er in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG und formulierte so die Minimaldefinition der menschlichen Rationalität. Was aber, wenn wir uns selbst täuschen?

Gewollte und absichtlich herbeigeführte Umnachtung

"Wenn ein Donald Trump am Morgen sagt, Putin habe recht, Russland habe sich nicht in den amerikanischen Wahlkampf eingemischt, und am Abend wiederum verkündet, die Geheimdienste hätten recht, Russland habe sich eingemischt, und auf den Einwand eines besorgten Republikaners, es könnten doch nicht beide recht haben, wiederum hinzusetzt, da habe dieser auch wieder recht, dann haben wir es offensichtlich mit einem Fall gewollter und absichtlich herbeigeführter Umnachtung zu tun."
Wenn der Wille gespalten sei, dann liege Selbsttäuschung vor. Die TAZ zeigte sich von diesem Phänomen ebenso beeindruckt: "Trump habe Putin natürlich NICHT vom Verdacht der Einmischung in den US-Wahlkampf freisprechen wollen. Er habe nur in einem Satz die Verneinung vergessen." Und so ergriff die Zeitung die Gelegenheit, um "weitere historische Zitate" im Stile Trumps "zu korrigieren": Barack Obama, 2008: "Yes, we can't". Walter Ulbricht, 1961: "Niemand hat die Absicht, keine Mauer zu errichten". Und – schon wieder ein Philosoph – René Descartes, 1637: "Ich denke, also bin ich mir nicht so ganz sicher".
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