Aus den Feuilletons

Erzwungener Striptease für die Freiheit?

Eine Frau mit Kopftuch und T-Shirt badet am 21.07.2016 am Strand von Norddeich (Niedersachsen) in der Nordsee.
Eine Frau mit Kopftuch und T-Shirt badet im Meer. © picture alliance / dpa / Ingo Wagner
Von Hans von Trotha · 25.08.2016
Vier bewaffnete Männer umstehen am Strand von Nizza eine Frau – und zwingen sie einen Teil ihrer Verhüllung abzulegen. Ein schreckliches Bild, schreibt darüber Andreas Rosenfelder in der "Welt": Darin ein Symbol unserer Freiheit zu sehen, will ihm nicht gelingen.
Sommerzeit ist Reisezeit. Klingt fröhlich. Muss es aber nicht sein.
Vor 200 Jahren ist Goethes "Italienische Reise" erschienen. Keineswegs alle fanden das gut. In der SÜDDEUTSCHEN lesen wir:
"Barthold Georg Niebuhr, der preußische Gesandte in Rom, war bekümmert: 'Aber möchte man darüber nicht weinen? Wenn man so eine ganze Nation und ein ganzes Land bloß als eine Ergötzung für sich betrachtet, in der ganzen Welt und Natur nichts siehet, als was zu einer unendlichen Dekoration des erbärmlichen Lebens gehört.'"
Tja, so war er eben auch, unser Goethe.

Lieber Brinkmann als Goethe

"Man stelle sich vor", fordert Gustav Seibt mit der unbändigen Freude des versierten Analogisten,
"der Dichter Rolf Dieter Brinkmann wäre nicht 1975 bei einem Autounfall ums Leben gekommen und er hätte seine 1979 aus dem Nachlass publizierten Aufzeichnungen 'Rom, Blicke' selbst bearbeitet, und zwar dreißig Jahre nach seinem Rom-Aufenthalt, also erst 2002. Hätte man diesen Text als Auskunft über Italien gelesen? Ein wenig schon", meint Seibt.
"Viel wichtiger wäre den Lesern die Selbstauskunft des großen Dichters Brinkmann gewesen."
Vielleicht analogisieren wir einfach zu wenig. Ja, man stelle sich vor, der französische Philosoph Roland Barthes wäre nicht 1980 bei einem Autounfall ums Leben gekommen und würde sich sein großes schmales Buch 'Mythen des Alltags' als nunmehr Hundertjähriger noch einmal vornehmen und um Aktuelles ergänzen – würde er über die Burka schreiben? Andreas Rosenfelder meint immerhin, Barthes könne dabei helfen, ein verstörendes Bild zu verstehen, mit dem die WELT ihr Feuilleton aufmacht – ein echtes Ferienbild. Theoretisch zumindest. Strand, Sonne, Meer, Nizza ... Und dann sind da Polizisten. Und die zwingen eine Frau, sich zu entkleiden.

Das komplexe Spiel des Striptease

"Der Striptease", schreibt Rosenfelder dazu, "gehört als komplexes Spiel mit Verbot und Überschreitung, Scham und Lust zu jenen Errungenschaften der abendländischen Kultur, die wir meinen, wenn wir uns selbst immer wieder dazu auffordern, 'unsere Werte zu verteidigen und zu schützen'. Diese Worte", so Rosenfelder, "wählte Bundespräsident Gauck am Tag nach dem Anschlag von Nizza, und wenn man den Terrorakt auch als Angriff auf den Hedonismus und die Freizügigkeit einer legendären Strandpromenade versteht, dann kann man gar nicht anders, als zuzustimmen."
"Erfüllen", fragt nun Rosenfelder in seinem WELT-Artikel, "die Polizisten, die an einem heißen Augusttag eine muslimische Frau am Strand von Nizza dazu zwingen, einen Teil ihrer Verhüllung abzulegen, nicht genau diesen Auftrag?"
Nein, findet er.
Roland Barthes, zitiert Rosenfelder dessen Aufsatz zum Striptease, "beschrieb die rituelle Enthüllung ... als ein 'Schauspiel der Angst', ein 'delikates Spiel mit dem Schrecken'."

Eine zutiefst beschämende Szene

Zu dem Bild schreibt er:
"Ganz gleich, wie lange man das Foto fixiert, es will einfach nicht gelingen, darin ein Symbol unserer Freiheit zu sehen. Das Bild ist schlimm, es ist furchtbar in der ursprünglichen Bedeutung jenes 'Terrors', den Roland Barthes im Stripclub nur aufblitzen sah. Es ist ein wirkliches 'Schauspiel der Angst', aufgeführt in aller Öffentlichkeit und am helllichten Tage. Wir sehen den erzwungenen Striptease einer sitzenden Frau, von vier bewaffneten Männern umstanden und von einem sonnenbadenden Zufallspublikum betrachtet – eine zutiefst beschämende Szene. Sie wirkt wie eine Parodie auf das freie, unendliche Spiel der Zeichen, das nicht nur Roland Barthes als Hauptmerkmal unserer westlichen, modernen Kultur ausgemacht hat. Das Bild wirkt wie eine soziale Plastik, ausgeleuchtet vom gnadenlosen Licht des Südens."

Gnadenloses Licht des Südens

"Im Alter", erzählt Gustav Seibt in seiner Erinnerung an das Erscheinen der "Italienischen Reise" in der SÜDDEUTSCHEN, "beglückwünschte Goethe Gesprächspartner, die noch nie in Italien waren, denn sonst wäre ihnen der Himmel in Deutschland nie blau genug."
Von wegen Ferien. So unterschiedlich kann das Licht des Südens wirken, so unterschiedlich gnadenlos.
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