Aus den Feuilletons

Erdogan bestrafen, Demokraten schützen

Drei Frauen halten Porträts von Staatsgründer Atatürk in die Luft.
Protest gegen Erdogan: Drei Frauen halten Porträts von Staatsgründer Atatürk in die Luft. © picture-alliance / dpa / Sedat Suna
Von Adelheid Wedel · 24.07.2016
Sollte die Europäische Union die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stoppen, sei das eine Strafe für die demokratischen Kräfte im Land, meint der Chefredakteur der kritischen türkischen Zeitung "Cum Huriyet" in der "taz". Dennoch sollte die EU gegen Erdogans "Säuberungen" angehen.
"Merkel sei eine der wenigen Staatschefs, die mit Erdogan reden, die ihm etwas abverlangen könne", meint der Chefredakteur der linken türkischen Tageszeitung Cum Huriyet. Die Tageszeitung TAZ informiert über einen Appell, den Can Dündar an Angela Merkel sandte. Darin fordert der Journalist die Bundeskanzlerin auf, "gegen die Säuberungen von Präsident Erdogan einzuschreiten". Gleichzeitig mahnt er an, "dass ein Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen die Falschen treffen könnte".
In ihrem Vorhaben, "Erdogan zu bestrafen, trifft sie die Demokraten". Diese aber seien "jetzt auf die Unterstützung und Solidarität Europas angewiesen". Nach einem gegen ihn gerichteten Attentat und Morddrohungen ist Dündar derzeit im Ausland untergetaucht. Von ihm stammen Sätze wie diese: "Die Türkei hat bewiesen dass Demokratie und Islam zusammengehen. Das ist einzigartig. Und das verlieren wir jetzt."

Freundschaft zweier Islamisten

Die FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG druckt einen längeren Artikel von Can Dündar, in dem er die Entwicklung der Freundschaft Erdogan mit Fethulla Gülen beschreibt – und deren Untergang. Angefangen hat es so: "Erdogan und Gülen: zwei einander bewundernde Islamisten. Zwei an Politik interessierte ambitionierte Persönlichkeiten. Aufgrund religiöser Umtriebe hatte es gegen beide Ermittlungen gegeben, Haftstrafen und Verbote. Aneinander festhaltend, überstanden sie diese schweren Tage. Später hielt das Duo Erdogan-Gülen die gesamte Macht in Händen, bevor die beiden Flügel des Staates übereinander herfielen."
Gülen wird inzwischen als Verräter gebrandmarkt, Erdogan erträumt die Alleinherrschaft. Und nun? Dündar meint: Es folgt voraussichtlich ein Monate währender Schau- und Massenprozess. Der erfahrene Journalist sagt voraus: "Niemand wird dort auszusprechen wagen, dass der eigentliche Ziehvater der jetzt unter Anklage stehenden Bewegung ehemals Erdogans Partner war und dass der Hauptverantwortliche für diesen Umsturzversuch auf dem Sessel des Staatspräsidenten sitzt".
Über das aktuelle Geschehen in der Türkei informiert auch der TAGESSPIEGEL. Zum Ausnahmezustand und den zahlreichen Entlassungen sagt Regisseur Neco Celik, zur Zeit Stipendiat des Goetheinstituts in Istanbul: "Natürlich ist das Vorgehen zu hinterfragen, es kann ein gefährlicher Mechanismus werden. Hier in der Türkei wird jetzt ausgegrenzt und gebrandmarkt. Es wird sicher eine Hexenjagd stattfinden. Alle Parteien", so Celik, "stimmen dieser Strategie übrigens zu, es gibt einen politischen Konsens."

Der Münchner Mörder und seine Leidensgenossen

Zu dem Amoklauf in München drucken die Kulturseiten fast aller Zeitungen Kommentare und Berichte. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG bringt ein Interview mit dem Soziologen Klaus Hurrelmann. Er schrieb das Vorwort zu "Amok im Kopf", dem Buch über Amokläufe, das der Münchner Täter David S. offenbar zur Vorbereitung benutzte. Alex Rühle bemerkt, "es sei verstörend, dass solch ein Buch, das eindeutig als Präventionsbuch geschrieben wurde, im Zimmer des Täters gefunden wird". Hurrelmann dazu: "Ja, darüber bin ich selbst sehr erschrocken. In dem Buch werden zehn Fälle tatsächlich sehr detailliert beschrieben. Der Münchener Mörder hat möglicherweise in den Schulattentätern Leidensgenossen gesehen". Hurrelmann, sehr gelassen: "Wir müssen nun darauf gefasst sein, dass so etwas passieren kann, und müssen einfach weiterleben".
"Gibt es eine 'Weltsprache der Musik', die alle Völker verstehen?" fragt Michael Stallknecht in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Er bezieht sich auf eine Studie, die in der Zeitschrift Nature erschienen ist. Das Fazit seiner Rezension lautet: "Wer von der Weltsprache Musik spricht, sollte wissen, dass er damit … einen verkappten Kulturimperialismus verfolgt. In der Praxis erfolgreich ist er sowieso. Das zeigt nicht nur die rasante Adaption der abendländischen Klassik in China oder Japan. Es zeigt sich auch darin, dass mit dem Verbreitungsgrad westlicher Medien Völker wie die Tsimane – ein Volk im bolivianischen Amazonasgebiet – immer seltener werden und damit vielleicht bald nichts mehr zur Klärung solcher Fragen beitragen können".
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