Aus den Feuilletons

Epoche fluider Wahrheiten

Exponat der Ausstellung "Im Zweifel für den Zweifel": Michael Schirner, BYE BYE, WAR70, 2002 – 2011, Digigraphie by EpsonEpson
Brandts Kniefall - ohne Brandt. Ein Exponat der Ausstellung "Im Zweifel für den Zweifel": Michael Schirner, BYE BYE, WAR70, 2002 – 2011, Digigraphie by Epson © NRW Forum Düsseldorf
Von Ulrike Timm · 23.09.2018
Was passiert, wenn man aus ikonischen Pressefotografien das zentrale Motiv herausschneidet, also Brandts Kniefall ohne Brandt zeigt? Was also, wenn man der eigenen Wahrnehmung nicht mehr trauen kann? "Das postfaktische Zeitalter macht die Täuschung salonfähig."
"Zu glauben, es gäbe nur eine Wahrheit, sei von allen Illusionen die gefährlichste, sagte Paul Watzlawik einmal. Man muss kein radikaler Konstruktivist sein, um zu erkennen, dass wir unsere Welt schaffen, ganz wie sie uns gefällt."
Das Auge lügt jedenfalls sehr schön, und die NZZ ist begeistert von der Münchner Ausstellung "Lust der Täuschung": "Die Kacheln an der Wand, das Foto des alten Mannes oder der zerbrechliche Oktopus in der Vitrine. Jedes Stück dieser Ausstellung gibt vor, etwas anderes zu sein, und zwar so gut, dass man in manche Bilder greifen oder Plastiken begrüßen möchte."

Ein perfekter Kommentar zu unserer Epoche

Ob sowas in Zeiten von Fake-News besonders fasziniert? Oliver Herwig drückt sich gewählter aus. Die Schau sei "der perfekte Kommentar zu unserer Epoche fluider Wahrheiten". In München verlegt man sich mehr aufs Historische, stellt etwa einen Stich des Erasmus von Rotterdam ins Zentrum, der Renaissance-Gelehrte "vertrat die Ratio und legte sich dafür sogar mit der katholischen Kirche an. Heute hätte der Universalgelehrte wohl einen ähnlich schweren Stand. Das postfaktische Zeitalter macht die Täuschung salonfähig, den Aberglauben und den Rassismus", lesen wir in der NZZ - und können gleich weitermachen.
Denn auch in Düsseldorf widmet sich eine Ausstellung der Täuschung und den Verschwörungstheorien, das Thema hat wohl in jedweder Hinsicht Konjunktur. "Im Zweifel für den Zweifel. Die große Weltverschwörung" wurde für die FAZ von Oliver Jungen besucht. Der ist nun aber gar nicht begeistert, letztlich kratze man lediglich an der polierten Oberfläche und würde "immer nur zurückgeworfen auf die schlichte Einsicht, dass der Wahrnehmung eben nicht zu trauen ist."

Ringen zwischen Realitäts- und Möglichkeitssinn

Vielleicht liegt das in der Natur der Sache. Die Münchner Schau widmet sich eher augenzwinkernd der Kunst, und man – oder doch die NZZ – freut sich, wenn man da mal auf seine Sinne hereinfällt. Und in Düsseldorf widmet man sich Verschwörungstheorien, will postfaktische Lügen erklären, kann das aber wohl schwer anschaulich machen.
Denkanstöße, willkommene Stolpersteine aber billigt die FAZ der Ausstellung dann doch zu, etwa wenn der Betrachter auf "Reproduktionen ikonischer Pressefotografien stößt, aus denen das entscheidende, oft gesellschaftsverändernde Motiv herausretuschiert wurde: Brandts Kniefall ohne Willy Brandt, New York am 11. September 2001 ohne die rauchenden Türme, die Barschel-Wanne ohne Uwe Barschel. Man kann das simple Photoshop-Kunst nennen, aber hier geschieht etwas, weil vor dem inneren Auge Nachbilder des Geschehenen auftauchen, die dem meist friedlichen Eindruck der Abbildungen widersprechen, ein Ringen zwischen Realitäts- und Möglichkeitssinn". Soweit die FAZ.

Mit Algorithmen gegen die Wirklichkeit

Und damit ein beherzter Sprung vom ausstellungsaufbereiteten Fake in die krude Wirklichkeit und in die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. Hier berichtet Anzhelika Sauer von Algorithmen, die der chinesischen Staatsführung dabei helfen, ihre Internet-Zensur zu perfektionieren. Denn was nicht wahr sein soll oder unliebsam ist, ist im Netz schlicht nicht erreichbar.
"Beiträge über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, die Taiwan-Frage, aber auch über die Rechte von Homosexuellen werden von Programmen wie Piya gelöscht." Die chinesischen Blogger wappnen sich zwar mit immer neuen Spitznamen oder Codewörtern, aber die Algorithmen sind schwer zu umgehen.
Tausende Suchwörter sind gesperrt, selbst nach dem berühmten Bären Pu darf man nicht forschen, denn "Präsident Xi Jinping wird eine gewisse Ähnlichkeit mit dem dicklichen Honigliebhaber unterstellt." Eigentlich ein bisschen viel der Ehre und ein Affront gegen das liebenswürdige Bärenvieh, oder? Finden wir jedenfalls – und werfen abschließend noch ein garantiert echtes Zitat in die Runde, das unter großem Applaus von Experten bei einer Konferenz über die Landflucht aus deutschen Klein- in Großstädte fiel. Die Süddeutsche Zeitung hat es aufgespießt, und es lautet: "Wir brauchen mehr konstruktive Anarchie!"
Mehr zum Thema