Aus den Feuilletons

Eine Schach-WM als Psycho-Krieg

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Die Schachspieler Anatoli Karpow (rechts) und Viktor Kortschnoi sitzen bei der Schach-WM 1978 am Wettkampftisch.
Anatoli Karpow (rechts) und Viktor Kortschnoi bei der bizarren Schachweltmeisterschaft 1978. © picture alliance / dpa / UPI
Von Tobias Wenzel · 21.05.2021
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Die FAZ feiert den Schach-Großmeister Anatoli Karpow zu seinem 70. Geburtstag als "Jahrhundertspieler" und erinnert an heutzutage fast unvorstellbare Umstände des WM-Finales 1978, aus dem Karpow als Sieger hervorging.
Lob und Verriss im Wechsel und zum Schluss noch Schach zum Schmunzeln, das bietet diese Feuilletonpresseschau.
Nichts weniger als "eine Sensation" verspricht Peter von Becker im TAGESSPIEGEL. Und er meint die bisher unbekannten Feuilletontexte des Theaterkritikers Alfred Kerr. Die 3000 Seiten in vier Bänden erscheinen in der kommenden Woche unter dem Titel "Berlin wird Berlin".

Hellseherische Fähigkeiten von Alfred Kerr

Und der TAGESSPIEGEL liefert schon mal einen Vorabdruck. Kerr sei ein "Hellseher" gewesen, behauptet Peter von Becker mit Blick auf einen Text von 1905, in dem sich Kerr nicht nur das Fernsehen schon sehr genau vorstellte, sondern auch die Bildtelefonie. Mit der werde man die Wahrheit stärker in der Welt verbreiten können:
"Telephonschwindeleien werden unmöglich, denn man kann, wenn jemand sagt: 'Hier Katz' kalt und verweisend antworten: 'Sie sind ja gar nicht Herr Katz.' Der Schurke ist entlarvt", schreibt Kerr. "Andererseits darf und kann eine Gattin verlangen, wenn ihr Mann auf Reisen ist, daß er immer Morgens mit ihr telephoniere, – damit sie sich überzeugt, wie er aussieht. Umsonst wird er der Stimme einen 'blühenden' Klang geben – sie sieht ja doch sein Jammerantlitz!"

Prätentiöses Metzelspektakel auf Netflix

Von der "Sensation" zum Verriss, vom TAGESSPIEGEL zum SPIEGEL: "Hauptsache, es knallt", titelt Oliver Kaever zu "Army of the Dead", dem neuen, in Las Vegas angesiedelten, Netflix-Film, einer Mischung aus Zombie- und Tresorknacker-Abenteuer. Der Kritiker hat "einen zynischen Waffenfetischismus" im Film ausgemacht, in dem Matthias Schweighöfer einen Panzerknacker-Nerd spielt.
"In einer Szene sieht man, wie sich die Leichen stapeln", schreibt Kaever. "Die Mauer aus menschlichen Körpern erinnert an dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte – aber weil 'Army of the Dead' sonst nur den Anspruch vertritt, Metzelspektakel zu bieten, wirkt das komplett daneben."

Die vielen Gesichter des Bob Dylan

Vom Verriss wieder zurück zur Lobeshymne: "Unter den Lebenden ist Bob Dylan mein hellster Stern am Liederhimmel", schreibt Wolf Biermann in der WELT über seinen Kollegen, der am Pfingstmontag achtzig wird, "er singt alle seine Töne 'blue': jeden Ton um ein Quäntchen Melancholie zu tief, aber alles stimmig. So ergibt sich sein unverwechselbarer Sound: eine rebellische Frömmigkeit."
"Man kann einfach nicht auf ihn bauen, sondern ihm nur zuhören", spielt Willi Winkler in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG darauf an, dass sich Dylan mehrfach neu erfunden hat: Mitte der 60er etwa sei er vom Sänger, der die Ungerechtigkeit der Welt anklagt habe, zum Rock 'n' Roller geworden. "Und es wurde noch schlimmer", lässt Winkler das Lob ins Entsetzen kippen.
"Er ging nach Nashville, er wurde Zionist und wiedergeborener Christ, er umgab sich mit Gospelgejammere und missionierte von der Bühne herab, und dann trat er auch noch vor dem Papst auf und machte am nächsten Tag Werbung für die Unterwäsche von Victoria's Secret, vom präsenilen Sinatrismus der letzten Jahre ganz zu schweigen."

Parapsychologie gegen indische Meditation

Zum Schluss noch Skurriles zum Schach. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN feiert Jürgen Kaube den Russen Anatoli Karpow zu dessen 70. Geburtstag am Sonntag schon mal als "Jahrhundertspieler" und erinnert daran, unter welchen Umständen Karpow 1978 gegen den aus der Sowjetunion geflüchteten Viktor Kortschnoi im philippinischen Baguio Schachweltmeister wurde:
"Die Farbe der Karpow während der Spiele gereichten Joghurts musste vorher bekanntgegeben werden, damit sie nicht der Kommunikation dienen konnten. Kortschnoi trug eine verspiegelte Sonnenbrille, um Karpows Blicken zu entgehen. Karpows Delegation ließ den Spielsaal erfolglos auf radioaktive Strahlung untersuchen, die womöglich von der Brille ausgehe. Ein Mitglied von Karpows Team war Parapsychologe und hatte angeblich die Aufgabe, Kortschnoi durch Anstarren zu stören. Dieser antwortete mit indischen Meditationskünstlern im Publikum. Schach wurde auch gespielt."
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