Aus den Feuilletons

Eine Frage der Zeit

04:10 Minuten
Eine schmelzend dargestellte Uhr scheint dabei von den Ästen eines Baumes zu laufen.
Der spanische Surrealist Salvador Dalí thematisierte oft die Vergänglichkeit der Zeit in seinen Werken, so wie hier in seiner Bronzeskulptur "Profil der Zeit". © Toby Melville / dpa / picture-alliance
Von Hans von Trotha · 29.07.2019
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Ist das Wohnen in großen Wohnungen, das Tragen von Uniformen auf Raumschiffen oder die Verwendung von verstaubten Grußformeln noch zeitgemäß? Damit beschäftigen sich die Feuilletons und stellen fest: Auch das Unzeitgemäße war einmal angesagt.
"Wenn du es nicht machst, bist du morgen tot."
Mit diesem Satz zitiert Max Nyffeler in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN Peter Maniura, "einen Pionier neuer Sendeformen beim BBC-Fernsehen. Er leitete einen Workshop zur Einbeziehung der digitalen Medien in den Produktionsprozess und die Öffentlichkeitsarbeit im heutigen Opernbetrieb" – also letzten Endes zur Frage, wie zeitgemäß traditionelle Formate sein können.
Wobei klassische Musik so unzeitgemäß gar nicht zu sein scheint. Das legt eine Umfrage der britischen Regierung nahe, die Maniuara zitiert:
"Eine Mehrzahl der Achtzehn- bis Fünfundzwanzigjährigen antwortete auf die Frage nach dem bevorzugten Musikgenre: Klassik und Orchester."

Ansichten eines Grammatik-Viktorianers

Doch in England gelten andere Kriterien, wenn es darum geht, was zeitgemäß ist. Dafür steht Jacob Rees-Mogg, Abgeordneter des Wahlkreises North East Somerset. "Wie Boris Johnson ist Rees-Mogg eine Marke", findet Wieland Freund in der WELT.
Kraft dieser Autorität versucht er nun, dem Parlament Sprachregeln aufzuerlegen – zum Beispiel, "wieder wie im 18. Jahrhundert zu sprechen und 'hopefully' nur im Sinne von 'hoffnungsvoll', nicht aber, wie im Englischen seit dem 20. Jahrhundert üblich, wie das deutsche 'hoffentlich' zu gebrauchen. Zwei Leerzeichen nach dem Punkt zu setzen wiederum, wie es Rees-Mogg seinen Mitarbeitern nun abverlangt, war, solange dieses 20. Jahrhundert Schreibmaschine schrieb, durchaus sinnvoll, ist seit der Einführung digitaler Textverarbeitungsprogramme allerdings so obsolet wie das 'Esq.' abgekürzte 'Esquire', zu Deutsch: 'Hochwohlgeboren', das Rees-Moggs Mitarbeiter von nun an jedem sonst titellosen Mann anhängen müssen."
Freund meint, Rees-Mogg sei nicht etwa, wie im Netz kolportiert, ein "Grammatik-Nazi, sondern ein Grammatik-Viktorianer". Das ist ja wohl beides gleich unzeitgemäß.

Neue Kulturtechniken des Wohnens entwickeln

Der Zölibat ist auch nicht zeitgemäß, vielmehr eine "Lebensform, die in Verruf geraten ist", wie Hartmut Leppin in der FAZ klagt. Es sei, schreibt der Althistoriker, "Ausdruck eines anmaßenden Präsentismus, wenn man allein eine physisch ausgelebte Sexualität als akzeptabel definierte. Viel kann man aus der Geschichte bekanntlich nicht lernen, aber doch, dass alles stets anders sein kann, als es den ewig Heutigen erscheint."
Sprich: dass auch das Unzeitgemäße einmal zeitgemäß war. Wie große Wohnungen. Große Wohnungen sind auch unzeitgemäß. Das führt uns Barbara Dribbusch in der TAZ vor Augen.
"Wir wohnen gern groß Dabei wäre es an der Zeit, wieder Kulturtechniken zu entwickeln für das Zusammenleben mit Bekannten oder Fremden in einer Wohnung."
Und sie erinnert an die "Rollenverteilungen aus "Der Kommissar"-Serie der 60er-Jahre mit strenger Zimmerwirtin, Untermieter und dem Verbot von Damenbesuch".

Trash-Faktor der Netflix-Serie "Another Life"

Das aber scheint gerade so zeitgemäß wie das Tragen von Uniformen in Weltraumschiffen, was Axel Weidemanns FAZ-Kommentar zur Netflix-Serie "Another Life" zu entnehmen ist:
"Neben vielen fast rührenden Anspielungen auf allerlei Weltraumserien –'Uniformen? Wir tragen seit einer Dekade keine Uniformen mehr auf Raumschiffen' – werden alle Register der Weltraumszenarienorgel gezogen, ohne dass sich jemand die Mühe machte, das Ganze logisch zu verknüpfen – als hätte es den Siegeszug der horizontal erzählten Formate nie gegeben. Ein geradezu gelungener Trash-Faktor ist der Serie nicht abzusprechen."

"Doyen des Billighumors"

Aber vielleicht ist Trash ja schon wieder zeitgemäßer als horizontales Erzählen. Das findet Ralf Kabelka bestimmt auch, "Autor, Komiker und Journalist" oder, wie er sich selbst im SÜDDEUTSCHE-Interview nennt: "der Doyen des Billighumors". Er zitiert einen "Ausspruch von Wigald Boning auf die Frage, was ihm peinlich sei, da sagte er sinngemäß: das Kabarett von Dieter Hildebrandt." So schnell kann etwas sehr Zeitgemäßes sehr unzeitgemäß werden.
Zum Schluss wird Kabelka auf seine Vergangenheit angesprochen: "Sie waren fast zehn Jahre Redakteur bei 'Fazit', einer hochwertigen Kultursendung des Deutschlandradios", heißt es.
Antwort Kabelka: "Das hat auch wahnsinnig viel Spaß gemacht. Aber bereits in der 'Fazit'-Zeit habe ich für Harald Schmidt Gags geschrieben. Schon da war klar, dass zwei Herzen in meiner Brust schlugen. So Doktor-Jekyll-und Mister-Hyde-mäßig: Tagsüber habe ich dem Kulturjournalismus gefrönt und in der Nacht das dunkle Comedy-Handwerk betrieben. Nur auf der einen oder anderen Spur unterwegs sein ist nicht gut für meinen Seelenhaushalt".
Aber vielleicht ist es ja auch schlicht nicht mehr zeitgemäß.
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