Aus den Feuilletons

Eine Chance aufs Vergessen

05:39 Minuten
Die Startseiten der Suchmaschinenanbieter Yahoo, Bing und Google übereinander gelegt.
Das Bundesverfassungsgericht hat geurteilt, dass Verbrecher mit ihrem Namen in Suchmaschinen unauffindbar sein müssen. © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Von Tobias Wenzel · 30.11.2019
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Dass das Bundesverfassungsgericht das Internet zum Vergessen gezwungen hat, berichtet die "SZ". Auch verurteilte Mörder müssten eine Chance auf "einen Neubeginn in Freiheit" haben und deshalb mit ihrem Namen für Suchmaschinen unauffindbar sein.
Na, liebe Hörer, Lust auf einen kräftigen Schluck Wasser? Aus dem Fluss Lethe? Um geschwind die Schattenseiten unserer Welt oder die eigenen Verfehlungen zu vergessen?
"Früher breitete sich irgendwann die Gnade des Vergessens über all jene, deren Fehltritte öffentlich geworden sind. Aus den Nachrichten von heute wurde morgen Altpapier", schrieb Wolfgang Janisch in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. "Nun aber müssen Gerichte das Netz zum Vergessen zwingen, dort, wo es zum Schutz der Betroffenen angezeigt ist." So das Ergebnis von zwei Grundsatzurteilen des Bundesverfassungsgerichts.

Neuanfang im Netz

Ein Mann, der wegen Mordes eine Gefängnisstrafe abgesessen hatte, klagte gegen den "Spiegel", weil man bei der Suche seines Namens im Netz immer noch auf die Artikel des Magazins über den Mordfall stieß. Zwar haben nun verurteilte Schwerverbrecher keinen Anspruch darauf, dass die Archive ihre Namen löschen. Aber sie müssten, erklärte Janisch, für die Suchmaschinen unauffindbar sein. Denn, so die Urteilsbegründung, jeder müsse die Chance auf gesellschaftliches Vergessen und "einen Neubeginn in Freiheit" haben.
Also auch irgendwann mal die Täter, die das Grüne Gewölbe in Dresden ausgeraubt haben, irgendwann, wenn sie gefasst worden sind und ihre Haftstrafen abgesessen haben. Ob sie dann die zweite Chance in Freiheit nicht eher für einen weiteren Raub nutzen, weil sie in Wirklichkeit unvergesslich sein wollen, wird sich zeigen. Der Einbruch ins Residenzschloss wirke, "als wäre er auch eine Attacke auf den Stolz einer Stadt, auf das Selbstbewusstsein eines Landes", schrieben Martin Machowecz und Hanno Rauterberg in der ZEIT.
"Die Intention der Diebe war das Ausschlachten", zerstörte ein Diamentenexperte im Gespräch mit der WELT die Hoffnung, die Schmuckstücke irgendwann in Gänze wiederzusehen. "Das Umschleifen dauert auch gar nicht so lange, bei einem einzelnen Diamanten vielleicht ein, zwei Tage." Wer weiß, vielleicht gingen schon am Black Friday Grüne-Gewölbe-Diamanten über den Ladentisch.

Das langweilige perfekte Verbrechen

"Das war fast wie 'Mission Impossible', was die da veranstaltet haben", zitiert Peter Körte in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG den Direktor des Grünen Gewölbes, Dirk Syndram, zum Raub und widerspricht vehement: "Nicht mal ein deutscher Fernsehsender würde ein Drehbuch akzeptieren, in dem ein Verteilerkasten lahmgelegt, ein Gitter mit der Flex zerlegt und Fenster und Vitrine mit einer Axt zertrümmert werden, bevor die Täter mit einem bereitstehenden Audi A6 flüchten. Zu einfach, zu phantasielos, zu krude." Vielleicht hatten die Kriminellen einfach vergessen, filmreif vorzugehen. Oder Körte hat die brisante Gefahr, die von einem Audi A6 ausgeht, noch gar nicht erfasst.
Dazu hätte er allerdings nur den Artikel eines Kollegen von der FAZ lesen müssen. "Der Deutschen liebstes Kind ein Mörder beziehungsweise eine Mordwaffe?" fragte Edo Reents und meinte das Auto. Der Hintergrund: Raser sind wegen Mordes verurteilt worden. "Ohne Eifer ist festzuhalten, dass das Fahrzeug jetzt zumindest von Gerichten als das betrachtet wird, was es immer schon war: ein Tötungs- oder ein Mordinstrument, genauso wie ein Gewehr, ein Messer, Gift oder ein schwerer Gegenstand."
Die meisten Verkehrstoten sind natürlich nicht Opfer von Autofahrern, die Menschen gezielt umbringen wollen, das war auch Reents klar: "Vor Gericht ist dabei aber weniger die sogenannte Heimtücke oder ein niedriger Beweggrund ausschlaggebend als vielmehr der Gebrauch eines 'gemeingefährlichen Mittels', eines Kraftfahrzeugs also." Reents hielt es für möglich, dass sich langfristig die gesellschaftliche Bewertung des Autos verändert.

Das Auto als Waffe

Mit Blick auf die Schusswaffendebatte in den USA fragte er, ob dann entsprechende Diskussionen in Deutschland denkbar wären: "Autofahren als deutscher Freiheitsmythos? Warum lässt man es immer noch zu, dass jeder Bürger so leicht an ein Auto kommt? Was muss denn noch alles passieren?" Wenn diese Diskussionen kommen, wollte man ergänzen, dann gerät, jedenfalls bis zum nächsten Automord, alles schnell wieder in Vergessenheit.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG vergisst nie die Fragen ihrer Leser: "Ist gute Kunst teuer?" "Nein, nein, und nochmals nein", antwortet Julia Voss. Hinter günstiger Kunst kann sich natürlich gute verbergen; und ein hoher Preis wiederum ist kein Garant für die Qualität eines Werks. Da sei schon manipuliert worden, erzählt Voss und fragt: "Erinnert sich noch jemand an Damien Hirsts Diamantenschädel ‚For the Love of God‘, der so lange als teuerstes Gegenwartskunstwerk gefeiert wurde, bis sich herausstellte, dass Hirst selbst dem Konsortium der Käufer angehörte?"
Nein? Haben Sie, liebe Hörer, schon vergessen? Das geht in Ordnung. Es ist auch Ihr gutes Recht, das Recht auf Vergessen zu vergessen. Mit oder ohne Schluck aus der Lethe.
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