Aus den Feuilletons

Eine Baumleiche im Wohnzimmer

03:58 Minuten
Ein blau geschmückter Weihnachtsbaum steht in Potsdam.
27 Millionen Bäume lassen für Weihnachten ihr Leben, schreibt die "taz". © picture alliance/Soeren Stache/dpa-Zentralbild/ZB
Von Ulrike Timm · 19.12.2019
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Es weihnachtet schon in den Feuilletons - von "Stille Nacht, heilige Nacht" allerdings keine Spur. Die "taz" warnt vor dem "arborischen Weihnachtshorror" und empfiehlt als Abhilfe einen Weihnachtsbaum aus Draht-Kleiderbügeln.
Macht Jom Kippur zum Feiertag! Das wünscht sich der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf in einem ausführlichen Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen", um nach den Anschlägen von Halle und dem immer offensichtlicher werdenden latenten Antisemitismus in Deutschland stärkere Zeichen zu setzen als die Forderung nach mehr Polizeipräsenz und dem Ruf nach besserer historischer Bildung.

Jom Kippur statt Pfingstmontag

Gerade die christlichen Kirchen sollten das unterstützen und gegebenenfalls ihren Pfingstmontag dafür abgeben, der in vielen anderen Ländern ohnehin kein Feiertag mehr sei. Jom Kippur, der Versöhnungstag, gilt als der bedeutendste Feiertag der Juden. "Selbst viele säkulare Juden sehen in ihm einen Tag der Einkehr und Selbstreflexion", schreibt Graf.
"Der heiligste Tag der Juden als ein staatlich geschützter Feiertag für alle Deutschen welchen Glaubens oder welcher Weltanschauung auch immer – das wäre ein starkes Symbol." Und weiter lesen wir in der "FAZ": Muslimische Akteure täten gut daran, eine entsprechende Initiative christlicher Kirchenvertreter ihrerseits zu unterstützen – auch als ein Ausdruck der entschiedenen Absage an den Antisemitismus in manchen islamistisch geprägten Sozialmilieus. Ihr verständliches Eintreten für einen eigenen Feiertag der Muslime könnte dadurch nur an Überzeugungskraft gewinnen.
Vielleicht schreiben sich solche visionären Sätze tatsächlich am besten vor Weihnachten – spannend wäre, wenn sie eine echte Diskussion anregen, die nach den Feiertagen weitergeht. Ansonsten kommen die Feuilletons zwar schon in feiertäglicher Gemächlichkeit, aber auch deutlich profaner daher.

Friedhof der geschenkten Bücher

"Schenken bitte nur mit Cutter" empfiehlt die "Neue Zürcher Zeitung" für alle Buchpräsente und fragt sich und uns, was aus all den Bücherstapeln wird, die im Dezember gekauft werden, als könne man von Januar bis November keinen Lesestoff kriegen. Und wie viele Bücher würden passionierten Nichtlesern unter den Weihnachtsbaum gelegt!
"Die Co-op Zeitung jedenfalls riet einst im Januar, alten Schinken mit dem Cutter die Seiten herauszuschneiden, den Buchleib mit Erde zu füllen und ihn als Pflanzentopf zu verwenden", schreibt Claudia Mäder und fürchtet sich jetzt schon, denn: "Aus den ausgeweideten Büchern werden Bäumchen sprießen, und ihr Papier wird uns neue Bücher bescheren, die im nächsten Jahr wieder unter allen Tannen liegen."

Massenmord an Tannenbäumen

Unwahrscheinlich, dass die "NZZ"-Kollegin das neue "TAZ"-Feuilleton schon kennt – und doch liest es sich, als bildeten "NZZ" und "TAZ" ein vorweihnachtliches Grusel-Tandem. Die "TAZ" nämlich beschwert sich, halb glossierend, halb ernsthaft, über unseren Massenmord an Tannenbäumen, Zitat: "27 Millionen Bäume werden acht bis zwölf Jahre herangezüchtet, meist in Monokulturen und mit Pestiziden besprüht, um dann zwei Wochen lang in muckelig warmen Buden ihrem endgültigen Ende entgegen zu siechen. Eine Baumleiche im Wohnzimmer, beladen mit Kerzen und Lametta."
Die "TAZ" nennt das den "arborischen Weihnachtshorror" und empfiehlt vom "patenten Kleiderbügel-Drahtbaum bis zur pfiffigen Leitervariante" Alternativen. Zudem stünden in deutschen Haushalten genug Grünpflanzen herum, denen sich ein Weihnachtsengel aufstecken ließe.
Dann vielleicht doch besser Christrose statt Baum. Die ist zwar giftig, war aber schon den alten Griechen bekannt als "probates Mittel gegen Wahnsinn, Schwachsinn und Epilepsie", als ein Medikament gegen die "Unwesentlichkeit des Hirnes". Das steht nun wieder in der "FAZ". Und den möglicherweise aus Baumschredder hervorsprießenden neuen Büchern, die die "NZZ" befürchtet, könnte man ja auch mit der elektronischen Alternative begegnen – muss man aber nicht.
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