Aus den Feuilletons

Ein seltsames Paar

04:41 Minuten
Der chinesische Präsident Xi Jinping schüttelt dem russischen Präsident Vladimir Putin die Hand.
Der chinesische Präsident Xi Jinping und der russische Präsident Vladimir Putin: "Inzwischen ist China der Gigant, Russland der schäbige kleine Handlanger", schreibt die NZZ. © imago images / Xinhua / Li Xueren
Von Hans von Trotha  · 20.01.2020
Audio herunterladen
Russland und Nationalismus sind die zwei großen Themen, die in den Feuilletons dominieren. Die "NZZ" schreibt über die Freundschaft zwischen Xi Jinping und Wladimir Putin, die "taz" dagegen treibt sich in der Russland-Halle auf der Grünen Woche herum.
"Der zweite Kalte Krieg hat begonnen", befindet Harvard-Professor Niall Ferguson in seiner alldienstaglich vom Feuilleton der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG ins Deutsche übersetzten allsonntäglichen Kolumne in der "Sunday Times". Und, so Ferguson, "Kalte Kriege sorgen für seltsame Paarungen." Sein Beispiel: "Als Mao Zedong im Dezember 1949 Josef Stalin in Moskau traf, war das nicht gerade eine innige Männerfreundschaft. 'Ich habe hier nur drei Aufgaben', beschwerte (Mao) sich, als der Sowjetführer ihn so gut wie nicht beachtete, erstens essen, zweitens schlafen und drittens scheissen!"

Russland auf der Grünen Woche

Russland ist das eine große, besorgniserregende Thema im Feuilleton, der Nationalismus das andere. Und mit deftigen Bildern haben sie es anscheinend immer, wenn es um Russland und seinen Nationalismus geht. Für die TAZ berichtet Barbara Oertel von der Berliner Grünen Woche, wo "die Nachfolgestaaten der Sowjetunion" zu ihrer Überraschung immer noch koexistieren. "Russland ist raumgreifend", lehrt sie der Messerundgang. "Ein Stückchen weiter weht die weiß-rote Fünfkreuzflagge Georgiens." Ein Mann dort berichtet, er habe "kein Problem damit, Russisch zu sprechen", hadert aber mit der russischen Landmasse. "Man stelle sich vor", sagt er, "wenn eines Tages alle Russen gleichzeitig pinkeln, wird das kleine Georgien ersaufen".

Die Russland-China-Freundschaft

Doch "im neuen kalten Krieg", wir sind zurück bei Niall Ferguson in der NZZ, "besteht das seltsame Paar (statt aus Josef Stalin und Mao Zedong) aus Xi Jinping und Wladimir Putin. Doch verglichen mit den 1950ern sind die Rollen vertauscht. Inzwischen ist China der Gigant, Russland der schäbige kleine Handlanger", so Fergusson. "Unter Xi bleibt China ein erstaunlich treuer Anhänger der Lehre von Marx und Lenin. Russland ist unter Putin zum Zarismus zurückgekehrt."

Neu übersetzter George Orwell Text

Und damit auch zum Nationalismus. Den nimmt sich Gustav Seibt in der SÜDDEUTSCHEN unter der Überschrift "Zorn und Zeit" vor, aus Anlass zweier Publikationen, einer neu übersetzten Schrift von George Orwell "Über den Nationalismus" und Essays zum Thema von Rabindranath Tagore. Das Thema ist brandaktuell. "Der weltweite Rechtsruck hat auch nationalistischen Affekten neuen Auftrieb gegeben", schreibt Seibt und analysiert: "Der langfristige Hintergrund dafür ist das Ende der Blockkonfrontation vor dreißig Jahren, das zahlreiche alt-neue Nationalstaaten aus dem Permafrost des Kalten Kriegs entließ."
Was das aktuell und ganz konkret für das Beispiel Russland heißt, deutet Kerstin Holm in der FAZ an. "Der Publizist Lew Timofejew bezeichnet die Verfassungsreform, insbesondere das Vorhaben, den Vorrang internationaler Rechtsakte vor nationalen abzuschaffen, als 'Einbruchdiebstahl' an den Rechten russischer Staatsbürger Timofejew, der in den achtziger Jahren wegen 'antisowjetischer Propaganda' im Straflager einsaß, nennt in seinem Blog die Erklärung der Menschenrechte das Erbe der jüdisch-christlichen Zivilisation Europas, zu der sich in nachsowjetischer Zeit auch Russland bekannt habe. Bisher."

Eroberung der Nation

Und jetzt? Wie kam es dazu? Gustav Seibt meint in der SÜDDEUTSCHEN mit Blick auf ganz Europa:
"Globalisierung und unerfüllte Hoffnungen auf eine neue Weltordnung verschaffen der Nation mit starkem Staat und klaren Grenzen neue Attraktivität. Begleitende Ideologien, vor allem geschichtsrevisionistischer Natur, florieren." Und: "Das historische Phänomen des neuzeitlichen Nationalismus entwickelt sich in integrierten Machtstaaten. Dabei sind Geschichtserzählungen, Mythen, Symbole, öffentlicher Unterricht, ein 'Stil', eine Nationalsprache mit Nationalliteratur ebenso unentbehrlich wie Eisenbahnsysteme und allgemeine Wehrpflicht. Kurzum: Der moderne Nationalismus dient der Integration großer Gesellschaften zu rational organisierten Staaten, riesigen Machtmaschinen und Wirtschaftsräumen."
Seibts verstörendes Fazit lautet: "Als politisch-soziale Organisationsform hat die Nation die Welt erobert. Sie wurde zum erfolgreichsten politischen Exportartikel Europas." Seibt zitiert Isaiah Berlin, der "nannte den Nationalismus die am meisten unterschätzte moderne Ideologie." Dieser Tage ist sie auch eine der gefährlichsten.
Mehr zum Thema