Aus den Feuilletons

Ein Gerechtigkeitsplan für Grund und Boden

04:22 Minuten
Demonstration und Kundgebung am Karlsplatz Stachus in München anlässlich der Mietpreis Explosion in der Stadt: Plakate und Transparente mit Schriftzug Schere zu. Stoppt die Bodenspekulation.
Bodenspekulation ist ein drängendes gesellschaftliches Problem. © Imago / Ralph Peters
Von Arno Orzessek · 17.11.2019
Audio herunterladen
Der 94-jährige Ex-Oberbürgermeister von München, Hans-Jochen Vogel, sagt der Bodenspekulation den Kampf an. In Bayerns Landeshauptstadt sind die Bodenpreise seit 1950 um 39.390 Prozent gestiegen. Die "SZ" sieht darin ein Armutszeugnis für die Politik.
Schätzen Sie mal, um wieviel Prozent die Baulandpreise in München seit 1950 gestiegen sind! Um 100, um 1000, um 10.000 Prozent vielleicht? Die Auflösung steht in einer Überschrift der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG: "Preissteigerung um 39.390 Prozent". Recherchiert hat das Hans-Jochen Vogel, der 94-jährige Ex-Oberbürgermeister von München, ehemals auch SPD-Vorsitzender.
Vogels Büchlein "Mehr Gerechtigkeit" (80 Seiten, 8 Euro, erschienen im Herder Verlag) ist laut dem SZ-Autor Bernd Kastner "ein Armutszeugnis" - und zwar für jene Politiker, die in Deutschland die Bodenpolitik verantworten, die Spekulanten reich macht und Hans Mustermieter arm.
Was aber ließe sich dagegen tun? Kastner skizziert die "Kernelemente des Vogel’schen Gerechtigkeitsplans" folgendermaßen:
"Die Gemeinden sollten sich bemühen, Grund und Boden zuzukaufen; auf keinen Fall sollen sie Boden jemals mehr verkaufen dürfen. Wenn sie ihn jemandem überlassen, dann nur im Erbbaurecht, sodass er irgendwann an die Kommune zurückfällt. Der Bund sollte Flächen, die er nicht mehr braucht, verbilligt oder kostenlos an die Gemeinden geben. Die Spekulationsfrist von zehn Jahren müsse fallen: Hat ein Privatier vor zehn Jahren eine Immobilie gekauft und verkauft sie jetzt mit Millionengewinn, zahlt er darauf bisher keine Steuer. Schließlich will Vogel die ‚leistungslosen Gewinne‘ der Grundeigentümer abschöpfen lassen, zugunsten der Gemeinden, die so günstigen Wohnraum schaffen sollen."
Wie gesagt: Das schlägt kein bärbeißiger Sozialist vor, sondern der SPD-Greis Hans-Jochen Vogel.

Das Projekt der Moderne ist noch nicht vollendet

Jürgen Habermas, aus Vogels Perspektive erst 90 Jahre alt, hat auf 1700 Seiten "Auch eine Geschichte der Philosophie" geschrieben. Und über die gerät Jörg Später in der TAGESZEITUNG ins Schwärmen.
"Für Habermas ist das Projekt der Moderne nach wie vor noch nicht vollendet: Wir können lernen, wir können fortschreiten, wir können Nein sagen. Eine vernünftige Freiheit ist möglich. Das ist Habermas’ eigene Sozialtheorie auf den Punkt gebracht. Nun wird die gesamte Philosophiegeschichte auf sie zugerichtet. Atemberaubend. Und gleichzeitig sehr optimistisch, wenn man sich die Krisenerscheinungen der kapitalistischen Demokratien in Amerika und Europa vor Augen hält, die Rückkehr von Diktatur und völkischen Mythen oder die globalen Probleme."
Apropos Krisen in den kapitalistischen Demokratien! Im Berliner TAGESSPIEGEL warnt Markus Engels, Generalsekretär des internationalen Think Tanks Global Solutions Initiative, vor schiefen Vergleichen – gerade mit China: "Noch vor 30 Jahren als Sieger der Geschichte angesehen, druckst der sogenannte Westen mehr und mehr herum und fragt sich, was er falsch gemacht hat. Bei dieser Fehlersuche besteht die Gefahr, aus Angst vor dem Sterben Selbstmord zu begehen."
Andererseits: In der Tageszeitung DIE WELT weiß der Bestseller-Autor Ken Follett auch keinen Rat, wie man etwa das gespaltene Großbritannien wieder versöhnen könnte: "Ich bin da sehr pessimistisch. Ich glaube, das ganze Ethos des Brexits ist gegen Versöhnung gerichtet. Es ist auf Missachtung aus. Und wenn die Probleme noch Jahre weitergehen, wird auch die Missachtung weitergehen."

Angriffe aller Art auf Minderheiten in Indien

Ähnlich düster äußert sich Salman Rushdie in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG über Indien:
"Das Land wurde als säkularer Staat gegründet, um den Schutz von Minderheiten zu garantieren. Diese Idee genoss breite Akzeptanz – bis zum Aufkommen des Hindu-Nationalismus. Die jetzige Regierung hat eine Politik eingeführt, die Angriffe aller Art auf Minderheiten zulässt. Parallel dazu wird jede Kritik abgeschmettert – auch mit physischen Attacken gegen Schriftsteller und Journalisten. Und ich sehe nicht, wie sich das in absehbarer Zukunft ändern könnte. Für jemanden wie mich ist das eine Tragödie."
Eine ganze andere Tragödie droht den Berliner Museen: Diverse Insekten haben Appetit auf deren Schätze. Warum das oft beschwiegen wird, erklärt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG unter dem Titel: "Schädlinge? Nicht bei uns".
Aber lesen Sie selbst! Wir möchten Ihnen nur noch raten, kommen Sie in der neuen Woche lieber nicht an den Punkt, an dem Sie – mit einer Überschrift in der WELT – feststellen müssen: "Um umzukehren, ist es zu spät."
Mehr zum Thema