Aus den Feuilletons

"Die Zeit der Illusionen ist vorbei"

"Jeder Neubau muß seine unabdingbare Notwendigkeit unter Beweis stellen."
"Jeder Neubau muß seine unabdingbare Notwendigkeit unter Beweis stellen." © Paolo Mazzo
Von Burkhard Müller-Ulrich · 17.06.2018
In der "SZ" ist nachzulesen, wie der Politikwissenschaftler Claus Leggewie Architekten die Leviten liest, während die "FAZ" ihren Kollegen "moralingesäuerten Weltbildjournalismus" vorwirft - sie sollten sich von vermeintlichen Gewissheiten verabschieden.
Wenn der Bundestag beschließen würde, jedes neue Gesetz müsse seine unabdingbare Notwendigkeit erst mal unter Beweis stellen: da wäre aber was los! Oder nehmen wir Schulreformen oder andere Versuche, das Leben der Menschen ständig umzukrempeln – wenn das Neue zunächst seine unabdingbare Notwendigkeit unter Beweis zu stellen hätte, dann bliebe sicher vieles beim Alten. Und nun taucht dieser durch und durch konservative Gedanke beim Bund Deutscher Architekten auf, der gerade in Hamburg getagt hat. Dort wurde ein Manifest verabschiedet, dessen Schlusssatz von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zitiert wird: "Jeder Neubau muß seine unabdingbare Notwendigkeit unter Beweis stellen."

Gebaut wird, was Profit erbringt

Das bedeutet, dass bestehende Gebäude unter allen Umständen saniert gehören, bevor über Neubauten diskutiert werden darf. Diese achtenswerte, ja geradezu mutige Position hat bloß einen Haken: Ihr stehen die wirtschaftlichen Interessen im Baugeschäft meist entgegen. Das wissen die Architekten nur zu gut. Aber ihre Organisation hatte den Politikwissenschaftler Claus Leggewie eingeladen, um es sich vom Rednerpult aus sagen zu lassen. Oder wie es Till Briegleb in der SZ formuliert: "Leggewie las den Architekten die Leviten."
Unter anderem erklärte er, dass nicht gebaut und geplant werde, was wichtig und richtig sei, sondern was viel Profit für Immobilienspekulanten erbringe, "die wiederum Projekte nur finanzieren, um persönlich möglichst reich zu werden." "Leggewie" - so weiter wörtlich – "nahm in seiner Kritik sogar das böse S-Wort in den Mund, aber über einen neuen Sozialismus wollte im Verlauf der Diskussion dann doch lieber niemand sprechen." Na sowas! Wo doch die sozialistische Architektur in aller Welt so vorbildlich ist und das persönliche Reichwerdenwollen zumindest bei der SZ als höchst verwerflich gilt.
Ein älterer Mann mit Lederjacke trägt eine Virtual-Reality-Brille.
Ist die Zeit der Illusion wirklich vorbei?© imago stock&people
"Die Zeit der Illusionen ist vorbei", titelt in ganz anderem Zusammenhang die FRANKFURTER ALLGEMEINE über einem Text, in dem allerlei Kollegen von SPIEGEL ONLINE bis zur SÜDDEUTSCHEN hart angegangen werden, weil sie – so wörtlich – "moralingesäuerten Weltbildjournalismus" treiben. Sie verkünden, Deutschland sei weltoffen und locker, überhaupt stehe alles überwiegend zum Besten. Den FAZ-Autor regt das ziemlich auf. Er schreibt:
"Die Alles-ist-gut-Philosophie ist ein, wenn nicht der Grund, warum die Demokratie gerade instabiler geworden ist. Sie ist naiv und falsch. Ich nenne sie die ,liberale Illusion'. Ich behaupte, dass diese Philosophie, dass es uns doch im Grunde gutgehe und alles, was im Argen liege, von unsichtbarer Hand besser werde, eine Form der Realitätsverweigerung ist, die nicht nur den Aufstieg des Rechtspopulismus, sondern auch den zuletzt beobachtbaren Niedergang der Sozialdemokratie erklärt."

Forderung nach linkem Realismus

Jetzt muss man wissen, wer hier schreibt. Nils Heisterhagen ist Grundsatzreferent der SPD-Landtagsfraktion in Rheinland-Pfalz. Er gibt eigentlich denjenigen recht, die sich vom unleugbaren Gleichklang aus Regierungs- und Medienstimmen angewidert fühlen, und fordert einen "linken Realismus". Ob der dann genauso national orientiert wäre, wie sein rechtes Pendant, und worin sich die beiden überhaupt unterschieden, sagt der philosophische Genosse allerdings nicht.
In derselben FAZ greift Medienredakteur Michael Hanfeld die Einstellung der Ermittlungen gegen die Rapper Kollegah und Kollegen auf. Ihre Texte waren ja erst dem Tote-Hosen-Sänger Campino anlässlich der Verleihung des Musikpreises "Echo" übel aufgestoßen. Doch die Staatsanwaltschaft Düsseldorf kam jetzt zu dem Schluss, "eine Leugnung des Holocausts liege nicht vor, keine Billigung, ja nicht einmal eine Verharmlosung."
Die Rapper Kollegah (li.) und Farid Bang (re.) bei der Echo-Verleihung 2018
Kollegah und Farid Bang: Eine Prüfung ihrer umstrittenenTextzeilen ergab, dass sie strafrechtlich nicht relevant sind.© Jörg Carstensen/dpa
Dazu schreibt Hanfeld: "Die verhungernden Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik im Konzentrationslager mit der Anmutung des eigenen, durch Bodybuilding ,definierten' Körpers zu vergleichen ist keine Verharmlosung? Die Judenvernichtung bei jeder Gelegenheit für einen vermeintlich coolen Gag oder eine lässige Zeile heranzuziehen, also für etwas ganz Normales oder sogar Witziges zu halten, das ist Verharmlosung pur. Gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Düsseldorf ist Beschwerde möglich. Jemand sollte sie einlegen."
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