Aus den Feuilletons

Die vielen Gesichter des Bob Dylan

06:25 Minuten
Der Sänger Bob Dylan.
Bob Dylan ist der erste Musiker, der "für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“ mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. © Sony Music
Von Arno Orzessek · 22.05.2021
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Am Montag feiert Bob Dylan seinen 80. Geburtstag. Für die einen ist er der hellste Stern am Liederhimmel, so Wolf Biermannn in der "Welt", für die anderen ist er ein wandelnder Widerspruch, so Edo Reents in der "SZ".
Vielleicht ist es Ihnen ja auch einmal zuteilgeworden: das Glück oder Pech einer Unterhaltung mit humorlosen Hardcore-Verehrern von Bob Dylan, mit Leuten, die kategorisch behaupten, ohne Dylan sei Popmusik gar nicht denkbar. Wir haben es mehrfach erlebt. Und von daher leicht traumatisiert, hätten wir erwartet, dass die Feuilletons vor Dylans 80. Geburtstag am Pfingstmontag ein unverträgliches Quantum Huldigung, Überhöhung und Anbetung verausgaben. Aber siehe da: Es ließ sich alles ganz gut lesen.Zum Beispiel Wolf Biermanns Eloge "Mein hellster Stern am Liederhimmel" in der Tageszeitung DIE WELT:
"Mit seinen sechseinhalb folkrockigen Gitarrengriffen und mit seinem monotonen Gekrächze ist Bob Dylan sogar auch am Senioren-Keyboard der Musikant, den die Musen mit Leidenschaft küssen. Er 'verbluest' nicht nur wie jeder normale Blues-Sänger seit Big Bill Broonzy die Terz und die Septime, sondern er singt alle seine Töne 'blue': jeden Ton um ein Quäntchen Melancholie zu tief, aber alles stimmig. So ergibt sich sein unverwechselbarer Sound: eine rebellische Frömmigkeit."

Der wandelnde Widerspruch Dylan

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG befleißigte sich Willi Winkler dylanhafter Schnoddrigkeit und fasste das Leben des Jubilars um 1970 herum wie folgt zusammen:
"Er ging nach Nashville, er wurde Zionist und wiedergeborener Christ, er umgab sich mit Gospelgejammere und missionierte von der Bühne herab, und dann trat er auch noch vor dem Papst auf und machte am nächsten Tag Werbung für die Unterwäsche von Victoria's Secret, vom präsenilen Sinatrismus der letzten Jahre ganz zu schweigen. Das war nichts mehr für Hermeneutiker und Tiefsinntaucher, die philosophieren und kritisieren, das war ganz Bob Dylan."
Auch cool: Dylan-Gratulant Edo Reents in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG:
"Und seine Songs, sein Markenzeichen? Die sind, man muss das einmal in aller Deutlichkeit sagen, halb geklaut und halb gefunden, partly truth and partly fiction, der ganze Mann eine walking contradiction. Es ist aber bemerkenswert, dass die Münze, in der Dylan es seinem ihm so bald lästig gewordenen Publikum heimzahlt, immer noch der Song ist."
Was immer es bedeutet: Offenbar haben nur Feuilletonisten – keine Feuilletonistinnen – Bob Dylan zum bevorstehenden 80. gratuliert.

Karpow gegen Kortschnoi: Kalter Krieg auf 64 Schachfeldern

Jürgen Kaube indessen gratulierte in der FAZ Anatoli Karpow, dem ehemaligen Schachweltmeister, zum 70. Die Älteren, die ein bisschen was mit Schach am Hut haben, werden sich erinnern: Karpows Kämpfe gegen Viktor Kortschnoi, der aus der Sowjetunion in den Westen geflohen war – das war einst Kalter Krieg auf 64 Feldern.
Um Karpows strengen, engen, bedrängenden Spielstil zu charakterisieren, hielt Kaube fest: "Einmal gab ein Gegner, der deutsche Großmeister Wolfgang Unzicker, nach dem 22. Zug auf, und es war bis dahin nur ein einziger Bauer getauscht und keine Figur geschlagen worden."
Vom Schachbrett auf die Bretter, die laut Schiller "die Welt bedeuten" – genauer: zum zeitgenössischen Theater im Gerangel um richtige und falsche Identitätspolitik. Im Berliner TAGESSPIEGEL verteidigte Kerstin Decker – laut Selbstbeschreibung "Deutsche mit migrationslosem Migrationshintergrund, Ostler also" – das Phänomen der kulturellen Aneignung:
"Theater ist immer kulturelle Aneignung, denn es bedeutet, sich Fremdes vertraut zu machen. Kulturelle Aneignung ist das Wesen unserer Gattung. Das betrifft nicht nur Stücke, es betrifft alles, sogar unsere Götter. Die Griechen haben das Theater erfunden, sein Schutzgott war Dionysos. Ein liederlicher Gott, völlig ungriechisch, mit seinem unmöglichen Kultus erst aus dem Osten zugewandert. Ein göttlicher Migrant."

Warum kulturelle Aneignung nicht automatisch rassistisch ist

Jenen aber, die kulturelle Aneignung reflexhaft als übergriffig oder rassistisch runtermachen, las Kerstin Decker die Leviten.
"Der Rassismus ging aus von einem gemeinsamen, unveränderlichen Wesenskern der Andersfarbigen. Ironisch genug kommt das [derzeitige, tabuisierende] Konzept der 'kulturellen Aneignung' genau da wieder an. Und vielleicht sollten Robespierres Brüder und Schwestern im Geiste von heute einmal wieder 'Dantons Tod' sehen, denn sie teilen mit dem obersten Revolutionswächter dasselbe Ideal: das der moralischen Reinheit als höchstem Wert."

Ostdeutsches Integrationsparadox

Passend dazu fragt der SPIEGEL:
"Warum mischen Ostdeutsche wie Jan Josef Liefers, Sahra Wagenknecht und Wolfgang Thierse so laut bei aktuellen Debatten mit?" Die Frage mag westdeutsch-chauvinistisch klingen. Doch der SPIEGEL-Autor und Soziologe Steffen Mau, geboren in Rostock, ist selbst ein mitmischender Ostdeutscher, und er meint:
"Das kollektive Hereinholen der Ostdeutschen in die Bundesrepublik war in gewisser Weise eine migrantische Erfahrung. Und bei vielen migrantischen Communitys brauchte es Zeit, bis sie sich Gehör verschaffen konnten. Dass sich die Ostdeutschen nun verstärkt zu Wort melden, könnte also ein 'Integrationsparadox' sein. Die neue Artikulationsstärke wäre ein Zeichen dafür, dass sie selbstbewusster ihren Platz beanspruchen."
Im Weiteren skizziert Mau derart viele Ost-West-Differenzen – etwa die im Osten größere Empfindlichkeit gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit –, dass man denkt: Oha! Die geistigen Mauerreste sind beiderseits doch noch ganz schön hoch.

K.I.Z wollen nicht immer nur konstruktiv sein

Das ungehobeltste Interview der Woche stand in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Die Rapper von K.I.Z äußerten sich zu ihrem Album "Rap über Hass":
"Wenn jemand sagt, was er scheiße findet, kommt sofort ein anderer und ruft: 'Dann mach aber doch bitte mal einen konstruktiven Vorschlag! Wie geht es denn besser?' Nee, ich finde es erst mal einfach nur scheiße. Das reicht mir", erklärte Nico Seyfried.
Sollte es Ihnen jetzt auch reichen, träfe es sich gut. Denn wir sind am Ende. Nur eine Warnung noch, notiert von der Wochenzeitung DER FREITAG unter dem Stichwort "Ausflug", Unterpunkt "Rausgehzwang":
"Wer hat nur das lange Wochenende erfunden? Schon Theodor Fontane wusste, wie dramatisch Ausfahrten enden können, jede Familie hat so was erlebt. Man kann viel Geld verlieren, seine große Liebe – und Renommee. Machen Sie jetzt bloß kein Gesicht – ist doch sooo schön hier."
In diesem Sinne: Fröhliche Pfingsten!
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