Aus den Feuilletons

Die Rückkehr der Kleinfamilie

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Vater und Mutter mit ihrem kleinen Sohn an der Hand
"Der Staat erzwang die Rückkehr eines Familienmodells, dem schon seit Jahrzehnten keine soziale und ökonomische Realität mehr entsprochen hatte", lesen wir in der "SZ". © Imago/ Panthermedia
Von Burkhard Müller-Ulrich · 27.07.2020
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Die coronabedingte Schließung von Schulen und Kindergärten bringe „einen hässlichen und unangepassten Wiedergänger“ wieder hervor, schreibt die "Süddeutsche Zeitung". Dabei sei die Kleinfamilie ein als überholt geltendes Konstrukt.
"Wenn die Corona-Zeit eines gezeigt hat, dann das: Schüler brauchen Anleitung", schreibt Hannah Bethke in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG und kritisiert vehement das neue rheinland-pfälzische Schulgesetz, das nach ihrer Auffassung die Autorität der Lehrer durch überschießende Partizipationsbestrebungen untergräbt.
In der Tat wird in Rheinland-Pfalz die Schülermitbestimmung enorm ausgeweitet, selbstverständlich unter dem Signum der Demokratie. Dabei drohe, so die Autorin, eine Verkehrung der Rollen: "Lernende werden zu Lehrenden, Schüler wissen es besser als die Lehrer." Künftig sei zum Beispiel "die Zustimmung der Klassensprecher erforderlich, wenn Grundsätze ‚über den Umfang und die Verteilung von Hausaufgaben‘ oder auch ‚eines besonderen unterrichtlichen Angebots‘ erstellt werden, Eltern am Unterricht teilnehmen wollen oder neue pädagogische Schwerpunkte im Stundenplan gesetzt werden sollen".

"Sozialtatbestände, die sich nicht demokratisieren lassen"

Bei der bloßen Vorstellung stehen der FAZ-Korrespondentin die Haare zu Berge und sie fragt:
"Heißt das, in Mathematik, die sich im Allgemeinen keiner großen Beliebtheit erfreut, wird es künftig nur noch wenig Hausaufgaben geben, und in Deutsch nur solche, wo man nicht viel lesen, aber dafür ‚seine Meinung sagen‘ kann, wie Schüler mit solchen Neigungen es gern ausdrücken? Woher sollen Schüler denn wissen, wie belastbar sie sind, wenn sie nie dazu angehalten werden, es auszutesten?"
Für die Autorin besteht kein Zweifel, dass diese Gesetzesnovellierung nicht nur überflüssig ist, weil im Sinne der Demokratie kein Handlungsbedarf besteht, sondern irrig. Denn "es gibt Sozialtatbestände, die sich nicht demokratisieren lassen. Wir kommen nicht als Erwachsene auf die Welt, sondern als Kinder, die noch lernen". Und "für eine sinnvolle Ausgestaltung der Schule, an der sie qua Gesetz beteiligt werden sollen, sind diese Lernenden auf Erfahrungen angewiesen, die sie noch gar nicht haben können".

Von oben verordnete Sprachreformen

Kultur ist bei uns Ländersache, und außer aus Rheinland-Pfalz gibt es auch aus Sachsen eine umstrittene regierungsamtliche Vorschrift zu berichten. Dankwart Guratzsch kritisiert in der WELT die offizielle Einführung einer vermeintlich gendergerechten Schriftsprache. Die sächsischen Grünen hatten das als Wahlziel ausgegeben und in den Koalitionsverhandlungen mit CDU und SPD durchgedrückt. Dabei stört sich Guratzsch gerade an dieser Regierungsaktivität:
"Die deutsche Hochsprache war von Anfang an kein Erzeugnis irgendeiner Kanzlei oder Beamtenschaft, sondern der gesamten Bevölkerung", schreibt er, doch jetzt wird die korrekte Sprache von oben verordnet. "Und da wiederholt sich, was noch in frischer, unguter Erinnerung ist. Ist es doch die unselige Rechtschreibreform gewesen, die erstmals im Schriftdeutsch offen mit den uralten Freiheitsrechten des Sprachgebrauchs gebrochen hat."

Der hässliche, unangepasste Wiedergänger

Allerdings ist das bisschen Sprachreform ein Klacks gegenüber dem Umsturz der Lebensverhältnisse, der mit Corona durch die Familien fegte. Oder in den Worten des Literaturchefs der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, Thomas Steinfeld: "Die Seuchenpolitik schien einen hässlichen, unangepassten Wiedergänger hervorgebracht zu haben."
Mit diesem Wiedergänger ist die Kleinfamilie gemeint, jenes als überholt geltende Konstrukt, dem angeblich keine soziale und ökonomische Realität mehr entspricht. Gerade in Schweden, wo sich Steinfeld gut auskennt, spielte das eine wichtige Rolle bei der Entscheidung der Regierung, die Schulen und Kindergärten geöffnet zu lassen.
Der Vorrang der staatlichen Kinderbetreuung geht zurück auf Gunnar und Alva Myrdal, die beiden Theoretiker einer sozialdemokratischen Gesellschaftsplanung in Schweden. Sie wollten eigentlich die Familie im herkömmlichen Sinn ganz abschaffen, und wahrhaftig haben sich die heutigen Lebensverhältnisse davon weit wegentwickelt, doch, um wieder Steinfeld zu zitieren, "in solche Verhältnisse brach die staatlich erzwungene Rückwendung zu einem älteren Modell des Zusammenlebens wie der Golem in eine moderne Großstadt".
Will sagen: Es ist wie mit Schule und Sprache – ohne obrigkeitliche Gängelung nehmen die Dinge einen anderen, man könnte fast sagen, natürlichen Lauf.
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