Aus den Feuilletons

Die Perfidie gespielter Empörung

Demonstranten nehmen an einer Kundgebung teil, zu der die Bewegung Pro Chemnitz aufgerufen hat.
Demonstranten nehmen an einer Kundgebung teil, zu der die Bewegung "Pro Chemnitz" aufgerufen hat. © dpa
Von Ulrike Timm · 30.08.2018
Macht es einen Unterschied, von wem man totgeschlagen wird? Für die AfD und Teile der Bevölkerung in Chemnitz schon. Je nachdem sei das Ausrasten normal oder nicht. Die Ereignisse in Sachsen beschäftigen die Feuilletons von "FAZ" und "SZ".
"Muss aus Trauer Hetze werden?", fragt Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eher rhetorisch. "Teile der Bevölkerung rasten kalkuliert aus, weil ein Verbrechen geschehen ist. Sie rasten aber nicht des Verbrechens wegen aus. Alexander Gauland (AfD) hat es gerade als normal bezeichnet, wenn die Leute nach Tötungen ausrasten."
"Normalerweise", so die FAZ weiter, käme es "nach Tötungen nicht zu solchen Demonstrationen. Denn sonst müssten sie in Sachsen ja allein im Jahr 2017 schon 26 Mal ausgerastet sein. So viele Tötungsdelikte verzeichnet die Kriminalitätsstatistik dort. Wenn ein Deutscher eine Deutsche totschlägt, kommt es selten zu Demonstrationen. Die meisten halten es nämlich zu Recht für die Tat eines Individuums, nicht eines Merkmalträgers. Wenn ein Deutscher einen Nichtdeutschen totschlägt, ist es ebenso nicht normal, dass die Leute ausrasten und wurde jedenfalls noch nie von Gauland und seinen Leuten als normal bezeichnet. Jetzt soll das Ausrasten normal oder wenigstens verständlich sein, weil es zwei Asylbewerber waren. Dass das Opfer, hätten die beiden jemand anderen getötet, als 'Deutsch-Kubaner' jetzt womöglich unter den Verfolgten der organisierten Hetzmeute wäre, gehört zur Perfidie ihrer gespielten Empörung." Soweit Jürgen Kaube in der FAZ zum Thema dieser Tage.

Kindheit in Chemnitz

Jan Kuhlbrodt, Schriftsteller und in Chemnitz geboren, zeichnet in der Süddeutschen Zeitung Skizzen seiner "Kindheit in Chemnitz", dicht, atmosphärisch, ohne Anklage und doch mit ungutem Staunen über die "besorgten Bürger" seiner Jugend. Kuhlbrodt, der seine Familie "sozialistisch-orthodox" nennt, denkt an den 'kontrollettihaften' Abschnittsbevollmächtigten seiner Jugend, an den Untertanengeist der diversen Diederich Heßlings, die ihm begegneten, er schaut mit Sorge auf die Bilder der vergangenen Tage, der Sorge nämlich, er könne auf den Bildern des Mobs Bekannte entdecken.
Wir lesen aber auch: "Meine Freunde von damals aber, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich, aber in Chemnitz ausharren und versuchen, der Stadt ein gutes, freundliches Gesicht zu verleihen, standen auf der Seite der Gegendemonstranten für ein buntes und weltoffenes Chemnitz. Und sie werden in den Diskurs zurückkehren, wenn die Biertrinker wieder frustriert in ihren Kneipen sitzen. Weil meine Freunde einfach die bessere Musik machen und die besseren Bilder malen, weil sie die interessanteren Menschen sind."

Künstliche Intelligenz und "Web-Ethik"

Soweit Jan Kuhlbrodt in der Süddeutschen Zeitung. Gibt es auch was rundum Positives dieser Tage? Wenig. Frank Schätzing warnt in einem Interview mit dem Tagesspiegel einmal mehr vor den Gefahren der künstlichen Intelligenz und fordert ein Schulfach "Web-Ethik".
Aljoscha Harmsen warnt in der NZZ vor allzu schneller Meinungsbildung durch schludrige Sprache und fordert eine Rückbesinnung auf Kant: "Machen wir uns mit einem Urteil Arbeit, machen wir uns selbst Einwände, prüfen wir ein Argument auf seine Stichhaltigkeit und nicht darauf, ob es uns gelegen kommt. Dann verhalten wir uns redlich – dann ist die Aufklärung nicht bloß eine abendländische rhetorische Floskel, sondern eine ertastbare Lebensader unserer Kultur", lesen wir in der NZZ.
Immerhin hat diese Kultur für den durchaus kulturpessimistischen Schätzing im Tagesspiegel-Interview eine rosige Zukunft, denn in einer Zukunft geprägt von Künstlicher Intelligenz werden alle schöpferischen Berufe seiner Meinung nach erhalten bleiben, denn: "Computer können zwar kreativ sein, schreiben Songs, malen Bilder. Zur echten Kreativität fehlt ihnen jedoch etwas Entscheidendes, nämlich der Wille. Sie mögen wunderschöne Musik komponieren, doch es bedeutet ihnen nichts. Kreativität hingegen liegen Gefühle und Bedürfnisse zugrunde. Kunst erwächst aus Leid, Lust, Empathie und Wahnsinn – nie aber aus Gleichgültigkeit."
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