Aus den Feuilletons

Die Ohrfeige von Frankfurt

06:16 Minuten
Eine für den Wiener Prater typische Figur an Schießstätten und anderen Buden: Für zwei Euro bekommt man eine Ohrfeige.
Die "Ohrfeige von Frankfurt" gab es ganz umsonst und völlig unerwartet. © imago images / viennaslide
Von Tobias Wenzel · 19.12.2020
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Leidenschaft für die Sache oder mangelnde Diskursfähigkeit? Bei einer Diskussion im Architekturmuseum in Frankfurt wurde dessen Leiter von einem Immobilienverwalter geohrfeigt. Der wiederum sagt, der Geohrfeigte haben ihn zuvor an den Haaren gezogen.
"Wer den schlecht gekleideten Melancholiker George Smiley als literarischen Superhelden etablieren konnte, der musste ein absolutes Gehör für menschliche Zwischentöne haben, auch, aber nicht nur in der Spionage", schrieb Sonja Zekri in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zum Tod des britischen Schriftstellers und Ex-Geheimdienstlers John le Carré.
Holger Kreitling bezeichnete ihn in der WELT als "Ankläger einer schäbigen, ehrlosen Welt": "Le Carré hat sich und uns stets mit einem selbstironischen Ton erfreut, der besonders die eigene Haltung infrage stellte."
Die eigene Haltung infrage stellen – eine Seltenheit in Zeiten, in denen viele meinen, es könne "nur eine Seite den rechten Glauben haben", wie es Jürgen Kaube in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG formuliert, weshalb sie sich dann in einer "bedingungslosen Gegnerschaft" mit anderen wiederfänden. Die mögliche Folge – ein erschreckend unzivilisiertes Verhalten – haben die Feuilletons dieser Woche dokumentiert.

Architekt fordert Entfernung eines Journalisten

"Dass Kritisierte mitunter das Maß verlieren, kennen Journalistinnen und Journalisten", schrieb Elisa Britzelmeier in der SÜDDEUTSCHEN. "Beim Thema Humboldt-Forum sind die Emotionen besonders heftig, erst recht, wenn die Berichterstattung schlosskritisch ausfällt."
Britzelmeier zitierte, passend zur digitalen Teileröffnung des Humboldt-Forums, aus einem Schreiben, das der am Schlosswiederaufbau beteiligte Architekt Thomas Albrecht an die Herausgeber der FAZ adressiert hatte. Anlass: ein kritischer Artikel, den der Architekturexperte Niklas Maak über das Berliner Schloss geschrieben hatte.
"Sie müssen Herrn Maak aus Ihrem Blatt entfernen", habe Albrecht in dem Brief gefordert. "'Entfernen' ist ein großes Wort", reagierte der FAZ-Redakteur Niklas Maak. "Man entfernt Unkraut. Man hat in Deutschland auch schon Journalisten entfernt – damals, als das alte Schloss noch stand, und auch, als der Palast der Republik es gerade ersetzt hatte."
Maak versuchte, sich in die "eliminatorische Logik" des Architekten Albrecht hineinzuversetzen: "Die Kommunisten haben das Schloss gesprengt, jetzt entfernen wir den Palast der Republik – und die verdammten Kritiker gleich mit: Mit solchen Architekten ist es nicht so einfach, das Schloss als Ort eines demokratisch offenen Diskurses zu verkaufen."
Auffällig ist, dass sich Thomas Albrecht in seinem Schreiben an die FAZ-Herausgeber "eine echte Toleranz, ein tiefes Verständnis unseres Gegenübers, einen Respekt trotz verschiedenem Denken" wünscht, die Forderung, seinen Kritiker zu "entfernen", also als respektvoll und tolerant begreift.

Ohrfeigen-Eklat in Frankfurt

Er sei "ein kultivierter Mensch", behauptete auch der Immobilienverwalter Matthias Müntze dem SZ-Journalisten Gerhard Matzig gegenüber. Das sieht Peter Cachola Schmal, der Leiter des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt, vermutlich anders. Denn Müntze hat Schmal eben dort geohrfeigt, während einer nur online übertragenen Diskussion zu den Städtischen Bühnen. Es ging um Abriss und Neubau, aber auch den Wunsch einiger, darunter Müntze, das Frankfurter Schauspielhaus in seinem Zustand von 1902 zu rekonstruieren.
Schmal wiederum, erläuterte Matzig in der SZ, sei "nicht als Bannerträger einer restaurativen Architektur" bekannt. "Die Ohrfeige von Frankfurt" zeige "nicht den kultivierten Austausch unterschiedlicher Ansichten zur Ästhetik der Gegenwart", bemerkte Matzig augenzwinkernd.
Er hatte sich den Tathergang in einem Video im Internet angesehen und mit Ohrfeiger und Geohrfeigtem telefoniert. Müntze, der wegen Hausfriedensbruch und Körperverletzung angezeigt wurde, wehre sich und habe, so Matzig, seinerseits gegen das Museum Anzeige erstattet. Die Begründung des Rekonstruktionsbefürworters:
"Der Ohrfeigen-Clip, Teil einer 45-minütigen Aufzeichnung, zeige nicht die ganze Wahrheit. Zuvor habe Schmal, so Müntze, ihn an den Haaren gezogen und zu Boden gezerrt. Die Ohrfeige sei also nicht die Aktion, sondern die Reaktion gewesen – 'im Affekt'.
Schmal sagt, Müntze habe zuvor den Hausmeister des Museums in die Hand gebissen und versucht, einen Techniker mit einem Scheinwerfer zu schlagen. Außerdem habe Müntze dem Direktor die Maske vom Gesicht gezogen und den Hausmeister 'angepustet'."
Es stehe Aussage gegen Aussage, schrieb Gerhard Matzig, der es sich allerdings nicht nehmen ließ, dem Rekonstruktionsaktivisten Müntze indirekt, aber umso genüsslicher die Leviten zu lesen: "In jener fernen Vergangenheit, in die sich manch Moderne-Verächter am liebsten beamen ließe, hätte man sich nicht geohrfeigt. Man hätte gesagt: 'Bitte fühlen Sie sich geohrfeigt.' Das sollte man rekonstruieren."

"Ich würde die Queen aufs Fahrrad setzen"

Vielleicht helfen ja wenigstens Musik und Weihnachten gegen die Spaltung der Gesellschaft. Jan Brachmann bescheinigt in der FAZ der Musik Ludwig van Beethovens zu dessen 250. Geburtstag nicht weniger als "die Überwindung moderner Entzweiung".
Und Thomas Assheuer schreibt in der ZEIT mit Blick auf Corona, Klimawandel, Weihnachten und Neujahr, es komme nun alles auf "das gemeinsame Wünschen an – darauf, kollektiv eine Welt zu erhalten, in der individuelles Wünschen überhaupt noch möglich ist".
John le Carré wünschte sich übrigens eine geschrumpfte britische Monarchie. Der Autor hatte, so die SZ, dazu auch schon eine erste Idee: "Ich würde die Queen aufs Fahrrad setzen".
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