Aus den Feuilletons

Die Meisterin der Autofiktion

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Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux dunkel gekleidet mit Blick in die Kamera beim International Book Festival in Edinburgh.
"Sie behält immer die Oberhand über ihre Biografie": die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. © picture alliance / Ger Harley
Von Arno Orzessek · 23.08.2020
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Die "SZ" feiert die französische Autorin Annie Ernaux für ihre Kunst, sich selbst als "Sozialfigur" zu entwerfen. Ernaux habe die "Selbsterforschung zur Meisterschaft gebracht", schreibt Hanna Engelmeier.
Vielleicht liegt es daran, dass uns die Sonntagssonne während vieler Stunden Starkwindsegeln das Gemüt mit Licht geflutet hat. Jedenfalls fallen uns in den Montagsfeuilletons die bejahenden und begeisterten Artikel als erste ins Auge.
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG zum Beispiel huldigt Ueli Bernays unter dem Titel "Die fröhliche Mission des Wunderkindes" dem britischen Sänger, Komponisten und Multiinstrumentalisten Jacob Collier.

Das Chamäleon der musikalischen Vielfalt

"Wo Normalsterbliche auf Fleiß setzen, Disziplin predigen, um dann irgendwann im Werden stecken zu bleiben, da breitet er sich wie ein vergnügtes Chamäleon genüsslich im Sein der musikalischen Vielfalt aus.
Wo die heutige Musik aufgesplittert scheint in unüberschaubare Trends, wird ein Jacob Collier wie von selbst zum Missionar der Einheit. Wenn er sich über alte Gräben hinweg in allen möglichen Musikkulturen und Subkulturen bewegt, scheint er stets eines zu zeigen: Es mag zahllose Traditionen und Stile geben, aber es gibt nur eine Musikalität."
So Ueli Bernays über Jacob Collier.

Lob für Ngais "Theory of the Gimmick"

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG macht Dietmar Dath Werbung für das neue Buch der US-amerikanischen Kulturtheoretikerin Sianne Ngai. Es heißt "Theory of the Gimmick", also etwa "Theorie des Gimmicks". Das Besondere an Daths Besprechung: Der sonst strotzend wortmächtige Autor streckt zwischendurch die rhetorischen Waffen.
"Ngai inspiziert im formalen Detail, wie unser ökonomisches Leben-auf-Pump und die Gruselkunst gewisse beiden gemeinsame Empfindungs- und Denkarten verlangen und fördern – man kann das gar nicht nacherzählen, so dicht ist es gearbeitet, man lese es bei ihr im Einzelnen."
Bevor sich nun jemand um Dietmar Daths intellektuelle Fitness sorgt: Wir können versichern, dass sich der FAZ-Rezensent auf der langen Strecke des Artikels ansonsten rhetorisch so beschlagen und dem Allzu-Theoretischen zugeneigt zeigt wie eh und je. Daths Schlusspointe ist allerdings simpel, vielleicht zu simpel: "Wer Kunst versteht, ist mehr als clever."

Klassenlage in der eigenen Person kondensiert

Klug ist man allemal, wenn man seine eigene Person so gut versteht wie die französische Autorin Annie Ernaux, der Hanna Engelmeier in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG huldigt:
"Ernaux hat die soziologisch grundierte Selbsterforschung zur Meisterschaft gebracht. Sie gibt sich selbst als Repräsentantin ihres Milieus der Analyse preis, Wissen über die Klassenlage kondensiert sie in ihrer eigenen Person. Dadurch, dass sie sich selbst derartig als eine Sozialfigur entwirft, behält sie jedoch immer die Oberhand über ihre Biografie. Die gestaltet sie mittels aller Verdichtungsprozesse, die das Schreiben in dem Genre erfordert, das unter dem Schlagwort Autofiktion seit einigen Jahren ausführlich diskutiert wird." So Hanna Engelmeier, die in der SZ Annie Ernaux‘ Werk "Die Scham" bespricht.

Netflix' "Biohackers" nicht überzeugend

Und jetzt etwas für die Netflixer unter uns: Es gibt eine neue deutsche Netflix-Serie namens "Biohackers", die laut der Tageszeitung DIE WELT zwar den "Skeptikern den Glauben an den Akademikernachwuchs zurück" gibt, aber in puncto Qualität laut Christian Meier nicht richtig griffig ist – und genau das findet der WELT-Autor typisch.
"'Biohackers' gehört zu einer neuen Generation von Serien, die nach einem ähnlichen Prinzip verfahren wie früher klassische Krimis. Sie sind nicht wirklich überzeugend oder inspiriert, ständig fragt man sich, ob dieses oder jenes Plot-Element denn so durchdacht ist oder eigentlich nur dazu dient, die Handlung voranzutreiben. Hauptsache, es ist so ungefähr plausibel, doch das reicht aus, um dranzubleiben, eine Folge weiterzuschalten, aber das möglichst schnell, denn ob man morgen noch mal weiterschauen würde, ist ungewiss."
Spricht Ihnen der WELT-Autor Meyer aus der Seele, liebe Netflix-Junkies? Oder finden Sie es unverschämt, dass wir Sie hier überhaupt als Netflix-Junkies ansprechen? Nun, dann stehen Sie jetzt vor jener Alternative, die eine Überschrift in der SZ aufzeigt: "Aufregen oder nicht?"
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