Aus den Feuilletons

Die gefühlte Realität des Verkehrsministers beim Fahrrad

04:22 Minuten
Andreas Scheuer (CSU), Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur, lehnt sich am 17.12.2019 im Innenhof des Ministeriums auf ein Fahrrad, einen Helm in der Hand.
Als mögliches Forschungssujet für Scheuers Professuren schlägt die "FAZ" vor: "Wird man im Sattel zum Idioten? Oder wird man dort – man selbst?" © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Von Hans von Trotha · 23.01.2020
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Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer wolle sich "in der gefühlten Realität die Amtsbezeichnung des Fahrradministers zulegen", schreibt die "FAZ". Anlass sind von ihm geförderte Professuren für Fahrradverkehr. Die müssten auch AfD-Angriffe parieren.
Dass man die Dinge unterschiedlich sehen kann, ist ein Wesensmerkmal des Feuilletons.
Nehmen wir die neue Staffel der Serie "Babylon Berlin". Die läuft just in dem Moment an, in dem die neuen 20er anbrechen. Und so wird sie in der SÜDDEUTSCHEN mit der Überschrift "Zurück in die Zwanziger" angekündigt, wobei Claudia Tieschky meint: "Die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts mit den Zwanzigerjahren der Gegenwart zu vergleichen, das ist im Moment chic, aber meistens auch ein bisschen blöd." Hanns-Georg Rodek von der WELT meint dagegen: Babylon Berlin "behauptet zwar nicht, dass sein Porträt der letzten Jahre der Weimarer Republik eins zu eins auf die Gegenwart der Bundesrepublik zu übertragen sei. Aber es legt Muster gesellschaftlicher Abläufe frei, wie sie sich auch hier und heute beobachten lassen." Und am Ende, spoilert Rodek, "bricht die Katastrophe herein."

Drohende Hungersnot in Ostafrika

Womit wir der Gegenwart näher wären, als uns lieb ist. Den Umgang mit apokalyptisch anmutenden Katastrophen lernen wir gerade. Stichwort: Australien. Und jetzt Afrika, von wo Heiko Werning in der TAZ berichtet: "Auf Überschwemmungen folgte eine Heuschreckenplage, die zu Hungersnot führen wird."
"Wo ist das Insektensterben, wenn man’s mal braucht?", fragt Werning. "Aber ... bevor uns nun Henryk M. Broder, Dieter Nuhr und Harald Martenstein erklären, dass das ja wohl der ultimative Beweis gegen eine Biodiversitätskrise sei, weil offenbar ja noch genug Tiere übrig sind, wollen wir kurz einen Blick auf die Zusammenhänge werfen" – was Werning tut. Tatsächlich liegt der Plage in Afrika und den Bränden in Australien die gleiche Ursache zugrunde: die Wassertemperatur im indischen Ozean. "Und nun", schreibt Werning, "droht als nächste Eskalationsstufe eine Hungersnot in Ostafrika. Dann ziehen nach den Heuschrecken womöglich bald die Menschen los. Und dürfen sich schließlich von exakt den Leuten, die stets vor übertriebenem Alarmismus in der Klimafrage warnen, aus den Ländern, die das Desaster hauptverantwortlich verursacht haben, als Wirtschaftsflüchtlinge denunzieren lassen."

Scheuer stiftet Fahrradprofessuren

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG führt Christian Geyer die Kategorie der "gefühlten Realität" ein, am Beispiel von, von wem auch sonst: Verkehrsminister Scheuer. Der will sich, so Christian Geyer, "in der gefühlten Realität die Amtsbezeichnung des Fahrradministers zulegen". Es geht um sieben von ihm geförderte Stiftungsprofessuren für Fahrradverkehr.
Unter den möglichen Forschungssujets isoliert Christian Geyer die Frage: "Wird man im Sattel zum Idioten? Oder wird man dort – man selbst? … Die Antwort", meint Geyer, "erwartet man von einer Fahrradprofessur, die einen anspruchsvollen Begriff von Mobilitätsforschung pflegt, … der zugleich nüchtern genug ist, um Dirk Spaniel von der AfD die Luft aus dem Schlauch zu lassen. Spaniel hatte neulich im Bundestag das Fahrrad als 'Hauptunfallverursacher im Straßenverkehr' herabgesetzt und…hinzugefügt: 'Nüchtern betrachtet, sind Fahrräder in hohem Maße unpraktisch und gefährlich. … Eigentlich", meint Christian Geyer, "lässt sich so ziemlich alles, nüchtern betrachtet, als unpraktisch und gefährlich bezeichnen, setzt man es nur zu den falschen Bezugsgrößen in Beziehung." Also in einer anderen "gefühlten Realität".

Joey Kramer klagt gegen Aerosmith

Noch ein letztes Beispiel, eines aus der Welt der "titanischen Schlachten, in denen aus kleinen Jungs große Männer und aus großen Männern noch größere Rocklegenden und aus noch größeren Rocklegenden am Ende wieder kleine Jungs gemacht werden", für uns aufgeschrieben von Gerhard Matzig in der SÜDDEUTSCHEN. Es geht um Joseph Michael "Joey" Kramer, 69, Drummer von Aerosmith. Seinen Geburtsort, die Bronx, hat er, so Matzig, überlebt, "genau wie er die Drogenexzesse, die Sexexzesse überlebt hat.
Aber jetzt gibt es "Stress mit der Band, die unbedingt will, dass ihr rüstiger Trommler ... , wenn er sonst schon nichts verpassen will, auf jeden Fall die Grammy-Gala am Sonntag verpasst. Da treten Aerosmith auf, … ohne Joey Kramer. Denn der sei der Band zufolge seit Monaten (Zitat) 'emotional und physisch' nicht in der Lage, Schlagzeug zu spielen." Dagegen hat er geklagt, und zwar mit seiner Variante von "gefühlter Realität" nämlich dem Argument: "Die Sache mit der Energie sei ein 'undefinierter Standard'". Ach ja, und – schließlich gibt es bei Meinungsunterschieden immer die abstrakte Umschreibung und den wahren Grund: Er, Joey Kramer, "sei in Wahrheit topfit und der Ersatztrommler … ein Würstchen."
Die Klage blieb bislang erfolglos.
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