Aus den Feuilletons

Die Fotos von Aylan bewegen die Welt

Ein türkischer Polizist trägt ein totes Kind im Arm und bringt es vom Strand weg. Der Oberkörper des Kindes wird vom Körper des Polizisten verdeckt..
Die Bilder vom ertrunkenen Aylan (3), einem Flüchtlingskind aus Syrien, bewegen nicht nur die britischen Medien. © AFP
Von Arno Orzessek · 03.09.2015
Die Feuilletons diskutieren das tragische Schicksal des ertrunkenen dreijährigen Flüchtlings. Es sei die Perspektive des Fotografen, die diese Bilder so beeindruckend machten, schreibt etwa die "taz". Die "Welt" fragt, ob die Bilder des Toten abgedruckt werden müssen.
"Ein Foto rührt ans Gewissen", titelt die TAGESZEITUNG ...
Meint indessen mehrere Fotos, die in der ganzen Welt verbreitet werden.
Eines von ihnen, wohl das bekannteste, zeigt den dreijährigen Aylan Kurdi tot am Strand, umspült von schwappenden Wellen, die seine Leiche herantrugen.
Auf einem zweiten Bild sieht man einen türkischen Polizisten, der Aylans Leichnam vorsichtig auf seinen Händen den Strand hinauf trägt.
"Es sind nicht die ersten Bilder mit ikonischer Qualität von der europäischen Flüchtlingskrise", konzediert der TAZ-Autor Dominic Johnson. "Man kann auch nicht behaupten, sie gäben der Krise ein Gesicht, denn es gibt schon Abertausende Fotos von Flüchtlingsgesichtern. Es ist die Perspektive des Fotografen, die diese Reihe von Bildern so unter die Haut gehen lässt. Praktisch jeder Europäer hat schon einmal genau so irgendwo am Strand gestanden und genau so auf die Wellen geguckt. Jedem, das ist die Botschaft des Bildes, könnte plötzlich ein totes Kind vor die Füße gespült werden."
Die TAZ druckt das Bild mit Aylan und dem Polizisten ab ...
Die Tageszeitung DIE WELT dagegen legt Matthias Kamann und Alan Posener die Frage vor: "Soll man das?" und verzichtet auf ihrer Forum-Seite auf Fotos.
"Ein Toter darf nur von denjenigen betrachtet werden, die dieser Tod etwas angeht. Dieser Tod geht uns an, und deshalb ist es statthaft, das Bild vom ertrunkenen syrischen Jungen am Strand von Bodrum der Weltöffentlichkeit zugänglich zu machen - und zuzumuten",
erklärt WELT-Autor Kamann sein "Pro".
"Contra" gibt Alan Posener:
"Was wir (... ) mit diesem Foto zeigen, ist: Im Leben wie im Tod gelten für syrische Flüchtlingskinder nicht die gleichen Maßstäbe wie für Kinder, die in Europa geboren wurden. Das muss sich ändern. Das beginnt mit dem Respekt vor der Würde des toten Jungen; es beginnt damit, dass wir ihn so behandeln, als wäre er unser Kind - und nicht ein Ding. Und es endet erst, wenn wir das Elend Syriens als unsere eigene Schande und Verantwortung empfinden und entsprechend handeln",
argumentiert der WELT-Autor Posener.
Unabhängig von den Fotos untersucht Edo Reents in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG die Widersprüche, in die sich Deutschland und Europa in der Flüchtlingsdebatte verstricken:
"Weithin herrschende Meinung ist hier, dass das Bedürfnis, so gut wie möglich zu leben und dafür gegebenenfalls auch Anstrengungen in Kauf zu nehmen, jedem Menschen gewissermaßen eingepflanzt ist und keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Es ist vor diesem Hintergrund unbegreiflich, dass sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge nun immer stärker diskreditiert, ja, praktisch kriminalisiert werden. (...) Wenn es eine 'Flüchtlingskrise' gibt, dann besteht sie nicht darin, dass wir diese Menschen hier nicht unterbringen können, sondern in dem skandalösen Mangel an Empathie, der sich bemerkbar macht",
predigt der FAZ-Autor Reents, der sich am Ende allerdings nicht mehr erhofft, als "eine gewisse atmosphärische Befriedung":
"Man wird sagen: Aber die können wir nun mal nicht alle aufnehmen! Das stimmt. Doch Machbarkeit ist das eine; das andere ist Anstand, den man wenigstens zeigen sollte, indem man auf Stimmungs- oder Panikmache verzichtet." -
Auf Stimmungsmache nicht verzichtet hat offenbar Jonathan Franzen in seinem neuen Roman "Unschuld".
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG bekennt Christopher Schmidt:
"Man zuckt doch etwas zusammen über die steile These des Romans, das Internet sei die wiederauferstandene DDR. Wer den totalitären Staat mit Google gleichsetzt, verharmlost schließlich beide. Und dass ausgerechnet der Whistleblower die abgründigste Figur und die größte Gefahr für die freie Welt darstellen soll, dürften NSA und Amazon mit Freuden lesen."
Gleichwohl nennt die SZ Franzens 800-Seiten-Wälzer "teuflisch gut" ...
Wohingegen die TAZ mosert, das Buch werde "weder dem internetkritischen Anspruch gerecht noch den Protagonisten".
Zuletzt das: Die WELT glaubt, das Altern ließe sich abschaffen. Das interessiert Sie sicher brennend, nicht wahr, liebe Hörer? Suchen Sie also nach dem Artikel mit der optimistischsten Überschrift des Tages. Sie lautet:
"Unsterblichkeit, du bist so nah."
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