Aus den Feuilletons

Die falschen Fragen nach dem richtigen Leben

er niederländische Künstler Dries Verhoeven sitzt bei der Kunstaktion "wanna play?" in einem Glascontainer auf dem Heinrichplatz in Berlin.
er niederländische Künstler Dries Verhoeven sitzt bei der Kunstaktion "wanna play?" in einem Glascontainer auf dem Heinrichplatz in Berlin. © picture alliance / dpa / Foto: Britta Pedersen
Von Maximilian Steinbeis |
Das missglückte Spiel des Aktionskünstlers Dries Verhoeven sorgte diese Woche für besonders viele Diskussionen. Nebenbei beschäftigten sich die Feuilletons mit dem Rauchen, Sterben und der Verleihung von Preisen.
Es ging ums Rauchen in dieser Woche, es ging ums Sterben, es ging um Preisekriegen und immer wieder ging es um Bücher in dieser Woche, was daran liegt, dass dies die Woche der Frankfurter Buchmesse war, aber nicht nur. Fangen wir mit dem Rauchen an, mit dem SPIEGEL, der in diese Woche mit einem Interview mit Hans-Magnus Enzensberger einstieg, "wahrscheinlich dem fröhlichsten Raucher, den man sich vorstellen kann". Zwei Sätze wollen wir aus diesem Gespräch, in dem es um Kuba, die RAF und allerhand Biografisches mehr geht, wörtlich zitieren, den einen, weil man ihn Enzensberger überhaupt nicht, den anderen, weil man ihn ihm sofort glaubt: "Man soll nicht über etwas sprechen, das man nicht kennt." Und: "Ich möchte mich nicht langweilen."
Am Montag gab es in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG einen Essay des Schriftstellers Norbert Gstrein zu lesen über "Menschen und Maschinen" und was ein Schriftsteller im "Zeitalter entpersonalisierter Netzkommunikation" noch leisten kann. "Wir können unser Leben besingen, wie wir es immer getan haben", so Gstreins Antwort, aus der wir aus aktuellem Anlass auch noch folgende, en passant erzählte Anekdote "über einen der großen europäischen Schriftsteller" zitieren wollen, der "behaupte, er komme mit abgeschaltetem Hörgerät wunderbar durch alle Gespräche der Frankfurter Buchmesse, solange er nur von Zeit zu Zeit Ja sage, nicke und lächle."
Apropos entpersonalisierte Netzkommunikation: das missglückte Spiel des Aktionskünstlers Dries Verhoeven, der am Berliner Hebbel-Theater öffentlich in einem Gay-Datingportal herumgechattet und dabei allerhand arglose Schwule zwangsgeoutet hatte, animierte am Dienstag die feuilletonistische Imagination. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG schüttelte Mounia Meiburg den Kopf darüber, dass der Künstler über Datenschutz offenbar "nie nachgedacht hat", während in der WELT Michael Pilz hämisch konstatierte: "Das kommt davon, wenn Kunst falsche Fragen nach dem richtigen Leben stellt."
Am Mittwoch war es so weit: Es ging los in den Frankfurter Messehallen, den Deutschen Buchpreis gab es zu verleihen, aber ehe sich die Feuilletonisten ans Abtragen des damit verbundenen Haufens Arbeit machen konnten, mussten sie erst mit dem Tod von Siegfried Lenz fertig werden. Womit wir wieder beim Rauchen wären: Nicht nur "ein geübter Pfeifenraucher" sei der Verstorbene gewesen, so Franziska Augstein in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, sondern auch "ein zutiefst gutmütiger Mensch".
Die Pfeife in seinem Mund, "sie passte zu seiner langsamen, sinnlichen Art zu schreiben und die Welt zu sehen", schrieb Volker Weidermann in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Und tags darauf in der ZEIT erstand, um Siegfried Lenz zu würdigen, sogar Fritz J. Raddatz von seinem unlängst mit großem Gestus verkündeten Feuilletonistenruhestand auf und schrieb: "Bitter ist der Abschied von diesem Schriftsteller. Doch den Span vom Glücksbaum, den er uns in die Hand gab – den werden wir ihm nicht vergessen."
"Ich hatte nur ein paar starke Bilder"
Lutz Seilers Siegerticket beim Deutschen Buchpreis verschwand dagegen fast ein bisschen im Pfeifenrauchnebel der Siegfried-Lenz-Betrauerung. Die WELT brachte am Mittwoch ein großes Interview mit dem Preisträger, der Gelegenheit bekommt, sich gegen das Etikett "Wenderoman" für seinen DDR-Fluchtroman "Kruso" zur Wehr zu setzen. "Ich hatte gar nicht so ein Ziel. Ich hatte nur ein paar starke Bilder. Und die Idee, über Freundschaft zu schreiben." Für die TAZ dagegen sprach nichts dagegen, Seilers Buch in einen Trend einzuordnen, "der den Deutschen Buchpreis seit seiner Premiere im Jahr 2005 maßgeblich prägt: Der Deutsche Buchpreis", schreibt Christoph Schröder, ist ein Preis für deutsche Geschichte.
Kaum war der Buchpreis verliehen, warf am Donnerstag schon der nächste Mega-Ehrungstermin seinen Schatten voraus: Der Literaturnobelpreis. Wie kommt der überhaupt zustande? Nach welchem "Bewertungsverfahren"? Dies fragte in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG der Germanist Carlos Spoerhase, der über Ranglisten und Objektivierungsversuche der Literaturkritik geforscht hat und es jetzt anhand des Literaturnobelpreises auf einen Versuch ankommen lassen will. 13 Kritiker hat er die 20 wahrscheinlichsten Kandidaten nach fünf Kriterien bewerten lassen.
Am Ergebnis fällt dem Rankingexperten auf, "dass einige Autoren in allen Kategorien hohe Werte erzielen: Peter Nadas, Adonis, Thomas Pynchon und Philip Roth, andere dagegen nur in einer Einzelkategorie Spitzenwerte erzielten: Umberto Eco ist lediglich bei der Gelehrsamkeit ganz vorne dabei; Haruki Murakami und Milan Kundera erhalten nur im Bereich der Unterhaltsamkeit die vordersten Plätze; und Swetlana Alexijewitsch glänzt allein beim politischen Engagement".
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Jaron Lanier
Was das Ganze taugt, kann man leider nicht am tatsächlichen Ergebnis messen, denn Patrick Modiano hatte niemand auf dem Ticket. Was das Glück der Feuilletons über diese Entscheidung nicht geringer macht, im Gegenteil. "Modiano beschreibt wie kein anderer und mit nie nachlassender Faszination die etwas hilflose und nicht immer taugliche Strategie des Individuums, sich in Zeiten totalitärer Bedrohung in die Metamorphose zu flüchten", feierte am Freitag Nils Minkmar in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG die Auszeichnung für den Franzosen, ganz im Einklang mit dem generellen Feuilletonistenmainstream an diesem Tag. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG berichtet heute Claudius Seidl, "dass Modiano bei der Pressekonferenz seines Verlages ratlos bekannt habe, dass er jetzt gern wüsste, warum man ihn, ausgerechnet ihn, ausgewählt habe". Der FAS-Autor kennt die Antwort: "Weil Sie ihn verdient haben, Monsieur Modiano!"
Das war aber noch nicht der letzte Preis, den es in dieser Woche feuilletonistisch zu verarbeiten galt. Dass Jaron Lanier den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen wurde, war zwar schon länger bekannt, aber jetzt hat er ihn tatsächlich verliehen bekommen, und das war am gestrigen Samstag für manche noch ein Thema. Die WELT nennt ihn "den einflussreichsten kritischen Denker des Digitalzeitalters", während sich in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG Uwe Justus Wenzel darüber lustig macht, "dass der Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgerechnet einem Kopffüßer, der die gesprochene und geschriebene Sprache hinter sich lassen möchte, den Friedenslorbeer aufs Haupt setzt". Doch, so lautet zuletzt die bange Frage des NZZ-Autors: "wer weiß schon, was das Wort 'Buch' in zehn, zwanzig Jahren bedeuten wird?"