Aus den Feuilletons

Desillusionierte Heroen und Lolitas

Cover des Albums "Ultraviolence" von Lana del Rey. Das Bild zeigt ein Porträt der Künstlerin in schwarz-weiß.
Cover des Albums "Ultraviolence" von Lana del Rey © UMD/ Vertigo Berlin
Von Arno Orzessek · 19.06.2014
Ihr müsst euch nicht rechtfertigen! - ruft eine spanische Zeitung ihren gescheiterten Fußball-Matadoren zu. Auch die "FAZ" verbeugt sich vor Ramos, Xavi und Co. Die Amerikanerin Lana Del Rey singt unterdessen von verflossener Leidenschaft auf ihrem Album "Ultraviolence", das die "NZZ" bespricht.
"'Ihr müsst euch nicht rechtfertigen. Wir sind euch so vieles schuldig.'"
Diese bemerkenswert freundlichen Worte ruft die spanische Sportzeitung "As" den Fußballheroen ihres Landes zu, die nach sagenhaften drei Titeln in Folge – Europa-, Welt-, Europa-Meister – bei der aktuellen WM in Brasilien das Achtelfinale verpasst haben.
Hierzulande ist es die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, die den schönen Dank von "As" übermittelt ... Und auch FAZ-Autor Dirk Schümer verbeugt sich, im Ton etwas altbacken, vor Ramos, Busquets, Xavi und all den anderen Erfolgs- oder genauer Ex-Erfolgskickern Spaniens.
"Jedes Land der Welt dürfte sich glücklich preisen, wenn es vergleichbare Genies hervorgebracht hätte. Zudem fällt es schwer, an diesen Siegertypen, die nun ausnahmsweise (...) verloren haben, charakterliche Mängel zu finden. In der unvergleichlichen Kaskade der Erfolge, des Geldes und des Medienhypes sind sie so gut wie alle feine Kerle geblieben, geerdet und bescheiden. Auf die Frage nach dem Geheimnis seines Erfolges antwortete der große Andres Iniesta einmal: 'Den Ball stoppen und abspielen, stoppen und abspielen. Jahrelang.'"
Das zum Ballsport.
Desillusionierte Lolita
Konzentrieren wir uns nun mit der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG auf "Die desillusionierte Lolita".
Gemeint ist Lana Del Rey. Die amerikanische Sängerin hatte nach ihrem Debüt-Album zwar gesagt, sie hätte darin schon alles gesagt, was von ihrer Seite zu sagen wäre – trotzdem gibt es nun ein zweites Album von ihr. Es heißt "Ultraviolence" und provoziert den NZZ-Autor Ueli Bernays zu höchst Tiefschürfendem:
"Zwischen New York und der West Coast hält das Traumland Amerika der 'newer generation' offenbar keine eigenen Mythen bereit; es wirkt für die Jungen wie entzaubert. Und es spricht einiges dafür, dass das in ähnlicher Weise für die Musik zutrifft. Wenn sie im Zeichen von Retro Magie und Bedeutung einbüsst, so bleibt von ihr nichts weiter als der narkotisierende Effekt. Wenn Lana Del Rey auf 'Ultraviolence' wiederholt von verflossener Leidenschaft singt, ist dies auch eine Chiffre ihrer kulturellen Ernüchterung. Aber diese wird freilich im Sound ertränkt", konstatiert die NZZ.
Bei Del Rey ist der König, spanisch rey, nur ein koketter Teil des Künstlernamens. Karl der Große war dagegen wirklich ein König und später auch Kaiser.
Und nun "wuchtet (er) sich mit einer erstaunlichen Ausstellung in die europäische Gegenwart" – behauptet die Tageszeitung DIE WELT.
Ausstellung über Karl den Großen in Aachen
Eckhardt Fuhr ist von beidem begeistert: Von der dreiteiligen Aachener Ausstellung "Macht, Kunst, Schätze" und von Carolus Magnus selbst.
"Dass sein römisch-fränkisches Kaisertum Urbild des römisch-deutschen war, dass er in den großen Kaisergestalten des Mittelalters, in Otto, in Barbarossa, in Friedrich II., gewissermaßen fortlebte und damit 1000 Jahre lang bis zum Ausbruch der Moderne Inbegriff der politischen Ordnung Europas war, das wird leicht vergessen, weil es so selbstverständlich erscheint. ( ... ) Ohne Karl verstehen wir nichts."
Eben das: Dass sie ohne Karl nicht völlig verständlich sei, wird auch von der Europäischen Union behauptet, dem vorläufig letzten Stadium der Reichsmetamorphosen in Europa.
Dabei handelt es sich laut der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG um eine "Union ohne Bürger" – was aber nicht heißen soll, dass es uns alle gar nicht gibt. Wie's gemeint ist, erklärt Andreas Zielcke:
"Kritiker bescheinigen der Union seit je, dass ihr demokratischer Anspruch schon deshalb auf tönernen Füßen stehe, weil es keinen europäischen 'Demos' gebe, keine übergreifende europäische Bürgerschaft. Doch erst umgekehrt wird ein Schuh draus: Weil die Bürger der EU-Länder niemals gemeinsam die Verantwortung für das europäische Projekt getragen haben und tragen durften, konnten sie bis heute nicht zu dem Demos ( ... ) zusammenwachsen, dessen Fehlen man der Union vorhält."
Einen Merkspruch liefert SZ-Autor Zielcke übrigens auch. Er lautet:
"Europa steht keine Revolution bevor, Europa ist eine Revolution."
Soweit, liebe Hörer. Wir wünschen Europa genau das, was wir – mit einer NZZ-Überschrift - auch Ihnen wünschen, nämlich: "Quirlige Vitalität".
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