Aus den Feuilletons

"Der Staat ist er"

Zwei jungen halten ein Plakat von Erdogan hoch.
Der türkische Präsident Erdogan halte sich "für die Verkörperung des Souveräns", schreibt die "FAZ" nach seinem Interview in der ARD. © dpa / picture alliance / Stringer
Von Adelheid Wedel · 30.07.2016
Die Entwicklungen in der Türkei schwappen nach Deutschland rüber. Der "Cumhuriyet"-Chefredakteur appelliert in der "TAZ", Merkel solle gegen Erdogan einschreiten. Das ARD-Interview des türkischen Präsidenten erntete reichlich Kritik. Nur die "FAZ" lobte die Taktik des "fast schon übertrieben freundlichen" Interviewers.
In Zeiten, da man nach guten Nachrichten mit der Lupe suchen muss, ist es besonders sinnvoll, nach positiven Aktionen zu fahnden. In der vergangenen Woche fanden wir eine im TAGESSPIEGEL. Dort war zu lesen:
"In Trauergottesdiensten mit Pfarrer und Kirchenchor will der niederländische Künstler Dries Verhoeven in Wiesbaden verloren gegangene europäische Werte beerdigen."
Um Missverstehen auszuschließen, nicht dass es uns gefällt, wenn europäische Werte zu Grabe getragen werden. Nein, dass jemand mit allem Ernst darauf aufmerksam macht und den Verlust laut beklagt, das ist zu loben. Im TAGESSPIEGEL wird angemerkt, was wir verlieren:
"Solidarität, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz könnten dazu gehören."
Was das betrifft, scheint momentan ein Land geradezu gierig nach Auflösung alter Bande an Europa durch gemeinsame Werte zu sein. Ausnahmslos die Feuilletons aller überregionalen Tageszeitungen nahmen die Ereignisse in der Türkei zum Anlass für Berichte und zahlreiche Meinungsäußerungen.
Die Tageszeitung TAZ druckte in ihrer Montagsausgabe einen Appell von Can Dündar, den er an Angela Merkel richtete. Darin fordert der Chefredakteur der linken türkischen Tageszeitung Cumhuriyet die Bundeskanzlerin auf, "gegen die Säuberungen von Präsident Erdogan einzuschreiten. Gleichzeitig mahnt er, dass ein Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen die Falschen treffen könnte. In ihrem Vorhaben, Erdogan zu bestrafen, trifft sie", die EU, "die Demokraten. Diese aber seien jetzt auf die Unterstützung und Solidarität Europas angewiesen."
Dündar warnt vor den Folgen der aktuellen Entwicklung in seinem Land und sagt:
"Die Türkei hat bewiesen, dass Demokratie und Islam zusammengehen. Das ist einzigartig. Und das verlieren wir jetzt."

"Mikrofonständer am Hof des Neo-Osmanen"

Das Interview, das der türkische Präsident in der vergangenen Woche der ARD gab, erhielt reichlich Kritik. Die betraf vor allem den BR-Chefredakteur Sigmund Gottlieb, "der sich", laut SÜDDEUTSCHER ZEITUNG, "zum Mikrofonständer am Hof des Neo-Osmanen degradiert habe".
Auch der TAGESSPIEGEL stöhnt:
"Erdogans Umgang mit der kritischen Presse spricht der ARD-Mann gar nicht erst an. Zur Verhaftung von Journalisten keine einzige Frage vom Journalisten Gottlieb."
Es gab aber eine verteidigende Stimme im Chor der Entrüsteten. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG schrieb Michael Hanfeld: "Die Taktik von Gottlieb war gar nicht schlecht. Er trat schon fast übertrieben freundlich auf, fiel nicht mit der Tür ins Haus und fragte eher um die Ecke", mit dem Ergebnis:
"Nach diesem Gespräch aber muss jedem klar sein, mit wem wir es im Falle des Recep Tayyip Erdogan zu tun haben, ... mit einem Präsidenten, der sich für die Verkörperung des Souveräns hält. … Der Staat ist er."
Ein anderes staatstragendes Interview füllte die Spalten der Kulturseiten am Freitag: Merkels vorgezogenes Sommerinterview wurde kaum mit Lob bedacht. So knirschte die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG und bescheinigte der Kanzlerin "Unbeirrbarkeit, die in Halsstarrigkeit übergeht". Die Zeitung machte sich lustig über Merkels "typischen rhetorischen Mix aus Messianismus und Bürokratie" und fand heraus, dass sie auf diesem Grundton "die Platte von vor elf Monaten wieder auflegte" und an ihrem Slogan "Wir schaffen es" unbeirrt festhielt. Wenig inspirierend, fanden die Berichterstatter und:
"Schaffensoptimismus mag so nicht aufkommen."
Aus den USA kamen in den vergangenen Tagen große Reden vor dem großen Ereignis der Präsidentenwahl in diesem Herbst. Die beiden Parteien haben ihre Präsidentschaftskandidaten gekürt. In der Wochenzeitung DIE ZEIT bemerkt der US-amerikanische Schriftsteller Martin Amis zu Donald Trump, dem Kandidaten der Republikaner:
"Seine politischen Veranstaltungen sind gemein, brutal, voll unterdrückter Gewalttätigkeit. Mein ältester Sohn, berichtet Amis, war neulich bei einer Trump-Kundgebung, und er sagte, es liege der Geruch von Faschismus in der Luft."

Trump-Groupies: "Er schürt keine Ängste. Er gibt uns Fakten..."

Die TAZ zitiert amerikanische Trump-Groupies. Sie sind davon überzeugt: "Er schürt keine Ängste. Er gibt uns Fakten und die Wahrheit – im Gegensatz zu den Medien. Was ich an ihm liebe", sagt eine Vertreterin der Kampagne "Women United 4 Trump", "ist, dass er nicht von seinen Positionen abweicht – genau wie wir. Er hört den Menschen zu. Er ist für die Menschen und nicht gegen sie. Das ist der Grund, warum er der 45. Präsident der Vereinigten Staaten wird."
Weniger ergiebig ist die Ausbeute an Bewertungen für die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG lässt Verena Lueken fragen:
"Ist Hillary Clinton im Gegensatz zu Trump eine tatsächliche Person? Was sehen wir, wenn wir hinter die Karikatur blicken, zu der ihre politischen Feinde sie gemacht haben? Sie ist keine perfekte Kandidatin und in manchem vielleicht nicht vertrauenswürdig. Aber sie ist wirklich. Michelle Obamas Rede für Hillary Clinton zielte vor allem darauf: zu zeigen, dies ist eine Frau, kein Phantom."
Die Attentäter der vergangenen Woche waren allesamt Männer. Die Ereignisse traten einen Disput los: Wer sind die Mörder, Einzeltäter? Terroristen? Attentäter mit einer politischen Botschaft? Amokläufer, verwirrte Geister?
Bedenkenswert auf jeden Fall, was Daniel Kretschmar in der TAZ über die Täter zusammenfasst:
"Statt einen Sinn im Leben zu finden, finden sie ihn im Tod – dem eigenen und dem anderer Menschen."
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG schreibt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer:
"Massenmörder ist eine Karriere geworden. Die Formen des Massenmords sind wie eine Seuche, … eine bedeutungsvolle Geste von Menschen, die keine andere Perspektive sehen als durch ihre Tat zu sagen: Eure Welt ist ohne Zukunft für mich, ich finde keinen Platz in ihr."
Wir finden noch Platz für eine Überschrift aus dem TAGESSPIEGEL vom Sonntag, die daran erinnert, was wir trotz allem nicht übersehen sollten:
"Sonne, Sommer, August."
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