Aus den Feuilletons

Der Schnee von übermorgen

Im Vordergrund verschwommene Büsche, im Hintergrund der Wahlkampfbus von Thorsten Schäfer-Gümbel.
Die SPD konnte mit ihrem Hessen-Wahlkampf viele Wähler nicht überzeugen © picture alliance / Frank Rumpenhorst / dpa
Von Hans von Trotha · 08.11.2018
Mit dem Slogan "Zukunft jetzt machen" ist der hessische SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel zur Landtagswahl angetreten. Kommen wir da noch mit, fragt die "FAZ". Schließlich sei doch in der Gegenwart noch einiges zu erledigen.
"Wie das mit dem Fortschritt so ist: Manchmal hat er einen Lauf, und manchmal ist er nicht wiederzuerkennen", schreibt Thomas Thiel in der FAZ. "Formschwach eiert er dann herum", Thiel meint immer noch den Fortschritt, "als hätte er alle Zeit der Welt und als wäre die Zukunft nicht 'jetzt' zu machen." Wobei das "jetzt" als Zitat ausgewiesen ist, und zwar als Zitat von Thorsten Schäfer-Gümbel. Da stellt sich, und darum stellt Thomas Thiel die Frage: "Wie macht man das: Zukunft jetzt? Kann uns", fragt Thiel, "die Sozialdemokratie in eine Zukunft führen, die faktisch jetzt schon ist?" – "Im Ungewissen darüber, was einmal kommen wird, plagt uns", markiert Thiel dann listig den Sozi, "jedoch eine alte sozialdemokratische Frage: Kommen wir, also die Menschen in uns, da noch mit?"

Wenn das Gestern noch im Kopf herumspukt

Das Fazit von Thiels Zwischenruf lautet: "Wir sind nun einmal so, wie wir sind, mit dem Fluch der Vergangenheit beladen, müssen Zukunft erst lernen. Das Gestern spukt noch im Kopf herum und in der noch nicht von der Zukunft ausgebuchten Gegenwart ist noch so viel zu erledigen. Tut uns leid, Herr Schäfer-Gümbel. Wir machen da erst mal nicht mit, okay?", ruft Thomas Thiel dem Jetztzeit-Futuristen von der SPD zu und: "Es ist uns auch ein bisschen viel Schnee von übermorgen."
Okay. Muss man akzeptieren. Wie aber geht eine Zeitung, die sich so gegen den "Schnee von übermorgen" verwahrt, in der Gegenwart mit der Vergangenheit um? Nehmen wir als Beispiel das Gedenken ans Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren? Mit – na da muss man erst einmal drauf kommen: mit einem Interview mit Georg Friedrich Prinz von Preußen, dem Chef des Hauses Hohenzollern, das damals, als Deutschland den Krieg verlor, die Macht verlor.
Patrick Bahners und Jan Brachmann fragen den Chef-Hohenzoller zum Beispiel, wie er es findet, dass er nicht zur 275-Jahr-Feier der Staatsoper Unter den Linden geladen war, obwohl "das Haus gut 175 Jahre lang Preußische Hofoper war. Stattdessen", mokieren sich die Fragenden, "sah man Iris Berben, Otto Rehhagel und Mathias Döpfner unter den Ehrengästen. Beruhigenderweise erfahren wir immerhin, dass die Hohenzollern Otto Rehagel "in Freundschaft verbunden" sind, und dass der "sich besonders in der preußischen Geschichte" auskennt. Aber sind solche Fragen hundert Jahre nach 1918 wirklich die Alternative zum "Schnee von übermorgen"?

Als 1918 der deutschen Sprache die Bedeutung verloren ging

Ach ja, wo wir schon in der glorreichen Vergangenheit sind: Die Welt erinnert daran, dass 1918 nicht nur dem Kaiser das Amt und den Deutschen der Krieg, sondern auch noch dem Deutschen die Bedeutung verloren ging. "Bis 1914", erklärt Matthias Heine, und da schwingt schon so etwas wie Trauer mit, "bis 1914 war Deutsch eine expandierende Sprache" – eine Entwicklung, die mit dem Ersten Weltkrieg "abrupt" geendet habe. Kein deutscher Kaiser mehr, kein expandierendes Deutsches Reich mehr, nicht einmal mehr eine expandierende deutsche Sprache. Was haben wir überhaupt noch in unserer Gegenwart?
Müll. Die Antwort lautet: Müll. Zumindest wenn man die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG liest und Gerhard Matzig glaubt. Geht es nach ihm, so sitzen wir alle "Im Altglashaus". Das Wort, das wir uns seiner Meinung nach merken müssen, lautet: "Rezyklat. Es ist", so Matzig, "die Vokabel unserer architektonischen Ära. Die Gotik hatte ihr wundersames Strebewerk aus Stein; die Moderne lieh sich ihre Magie vom Triumvirat aus Stahl, Glas und Beton; aber die jetzige Epoche muss in die Geschichte eingehen als eine Ära der Rezyklat-Bauweise. Von diesem Dasein und dieser Kultur werden einmal berichten: Häuser aus" – da fügt Matzig ein verschämtes "ahem" in seinen Text – "Müll. Der Komposthaufen" sei "das, was wir der Geschichtsschreibung als zeitgenössische Bautypologie vermachen."
Da kann man schon verstehen, dass die einen sich mit "Schnee von übermorgen" einreiben und die anderen expandierenden alten Zeiten nachweinen. Aber vielleicht ist ja auch das Alte der Schnee von morgen. "Vielleicht", meint nämlich Gerhard Matzig, "markiert das, was vorgeblich retrospektiv erscheint, tatsächlich den wahren Futurismus. … Die identifikatorische Sehnsucht nach formaler und materieller Erneuerung: Das ist", so Matzig, "seit jeher der Antriebsriemen der Baugeschichte. Das" gelte "noch immer, doch jetzt" stehe "das Neue im Dienst des Alten – der Zukunft zuliebe."
Da finde sich einer noch zurecht, der einfach nur versucht, in der Gegenwart zu leben.
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