Aus den Feuilletons

Der Mensch und seine Krisen

Eine Möwe steht am 02.11.2017 in Potsdam (Brandenburg) bei herbstlichem Wetter auf einer Weltkugel, die eine vergoldete Atlas-Figur auf dem Alten Rathaus in Potsdam (Brandenburg) trägt.
Menschen seien es „gewohnt, sich in Krisen zu bewegen, sich in Ausnahmesituationen mehr oder weniger häuslich einzurichten“ und letztlich „den Kopf doch irgendwie aus der Schlinge zu ziehen“, schreibt Thomas Macho in der „taz“. © Ralf Hirschberger/dpa-Zentralbild
Von Adelheid Wedel · 28.12.2018
Gegen Ende des Jahres häufen sich die Rückschauen und selten fallen sie positiv aus. In der "NZZ" ist gar von einem "Jahr der Krisen" die Rede. Und davon, dass die Krise die Lebensform sei, die dem Menschen entspreche. Also alles noch im Rahmen!
"War es ein gutes Jahr oder war es keins?" Das ist am Jahresende die Frage aller Fragen. Die Tageszeitung TAZ gibt auf zwei Seiten Antworten darauf. Von den zwölf Befragten sind lediglich zwei Frauen. Das fällt auf. Gefragt wird nach dem Besten, dem Enttäuschendsten und der Überraschung des ausgehenden Kulturjahres. Dass sich allein bei der Frage nach dem Besten im Kulturleben 2018 keine einzige Wiederholung findet, kann man getrost als Zeichen qualitätsvoller Vielfalt lesen.
Wir lesen weiter in der TAZ und lassen uns aufklären über "die seltsame Zeit zwischen den Jahren", die Thomas Macho anregt zu Worten wie "Grauzone, Niemandsland, Aufschub, Fantasie und Erinnerung" und von der er sagt, diese Zeit "gehört dem Warten und den wilden Jagden". Oder philosophischer ausgedrückt:
"Zwischenzeiten sind Pausen, Zeiten des Wartens. Wir warten nicht gern, doch wer wartet, kann sein Warten mit eigenen Inhalten füllen." Und er erinnert an alte Mythen und Rituale für die Tage zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar, "die exakt der Differenz zwischen Mond- und Sonnenjahr entspricht".

Krise als Lebensform, die dem Menschen entspricht

Weit irdischer ist der Blick von Thomas Ribi in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Unter der Überschrift "Das war 2018" bemerkt er ziemlich unaufgeregt: "Ja, 2018 war ein Jahr der Krisen. Aber vielleicht ist die Krise die Lebensform, die dem Menschen entspricht. Geordnete Verhältnisse jedenfalls sehen anders aus, auch politisch", meint der Autor und führt aus:
"Ein Blick auf Europa genügt. England verheddert sich in den Konsequenzen des Brexit-Entscheids, in Frankreich erleben die politischen Autoritäten einen epochalen Vertrauensverlust. Deutschland schlingert vor sich hin, und weit und breit ist kein Land zu sehen, das die vakante Führungsrolle in Europa übernähme. Weltweit sieht es nicht besser aus."
Und auch dafür führt er Beispiele an. Irgendwie beruhigend dann Machos Überlegungen zum Krisenverlauf: "Wir sind es gewohnt, uns in Krisen zu bewegen, sind Virtuosen darin, Probleme aufzuschieben, uns in Ausnahmesituationen mehr oder weniger häuslich einzurichten und den Kopf am Ende doch irgendwie aus der Schlinge zu ziehen."

Wir leben in einer Übergangszeit

Noch einmal finden wir in den Feuilletons vom Wochenende den Begriff Zeit in der Überschrift, diesmal in der Tageszeitung DIE WELT. "Wir leben in einer Übergangszeit", heißt es da. In einem Gespräch mit dem Münchner Philosophen und Jesuiten Michael Bordt, das Ulf Poschardt via Mail führte, werden Fragen aufgeworfen wie: "Ist die Ökobewegung weitsichtig oder apokalyptisch? Bricht die deutsche Gesellschaft vor lauter Empörung auseinander? Welche Rolle spielt die Religion heute noch?"
Auch zur Rolle der Intellektuellen gibt Bordt Auskunft. Er sagt: "Die Intellektuellen könnten helfen, die Diskussionen zu versachlichen. Sie könnten der Empörungskultur eine Kultur des Argumentierens, des Abwägens entgegensetzen." Gleichzeitig wirft er ein: "Man sollte die Bedeutung der Intellektuellen auch nicht überschätzen. Menschen, die dem offen ausgetragenen Hass und der Polarisierung etwas entgegensetzen, müssen keine Intellektuellen sein."

"Die Stimme Israels" ist gestorben

Alle uns vorliegenden Zeitungen beklagen in Nachrufen den Tod des großen israelischen Schriftstellers Amos Oz. Er war "die Stimme Israels", schreibt Tilman Krause in der WELT. Ihm verdanke er "fulminante Analysen der politischen Lage in Israel als eine politisch-moralische Instanz". Stefan Sabin hebt in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG hervor:
"In Gesellschafts-, Seelen- oder Liebesgeschichten hat er die Verunsicherungen des modernen Individuums beschrieben und hinter der besonderen Stimmung der permanent bedrohten israelischen Gesellschaft eine allgemeine Befindlichkeit erkennbar gemacht." In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG betont Andreas Platthaus: "Er blieb ein hellwacher Beobachter, ein streitbarer Intellektueller und ein brillanter Schriftsteller bis zuletzt", bis er seiner schweren Krankheit an diesem Freitag in Jerusalem erlag.
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