Aus den Feuilletons

Debatte über Debattenkultur

Zwei Streitende beschuldigen sich gegenseitig.
Die deutsche Streitkultur sei dem Drang gewichen, die Meinung des anderen "nicht nur abzulehnen, sondern auszumerzen", schreibt die "Welt". © imago/Ikon Images
Von Paul Stänner · 20.07.2018
Viel Kritik erntete "Die Zeit" dafür, dass sie die Diskussion über private Flüchtlingsretter aufmachte. Eine ungewöhnliche Allianz: Die "FAZ" sprang den Kollegen bei. Und auch in der "Welt" geht es um die Debattenkultur, die sie als "neuen Meinungskrieg" bezeichnet.
Die Wochenzeitung Die Zeit hatte auf einer Diskussionsseite über die privaten Flüchtlingsretter im Mittelmeer diskutieren lassen. Daraufhin brach ein Sturm aus Wut und moralischer Empörung aus, in dem der Zeit beispielsweise unterstellt wurde, sie wolle darüber diskutieren, ob man Menschen sterben lassen solle.
Die FAZ springt jetzt den Kollegen zur Seite und moniert, dass die aufgebrachten Kritiker auf Twitter die Zeit offenbar nicht sorgfältig gelesen haben. Und weiter heißt es in der FAZ: "Unerfreulicherweise machen dabei auch viele Journalisten mit, gerne auch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die es sich sonst verbitten würden, auf Basis einer derart verkürzten und verzerrten Darstellung am Nasenring durch die Manege geführt zu werden."

Wie sieht sie aus, die neue deutsche Streitkultur?

Die Welt analysiert das, was sie als "neuen Meinungskrieg" bezeichnet. Die deutsche Streitkultur sei dem Drang gewichen, die Meinung des anderen "nicht nur abzulehnen, sondern auszumerzen". Dann wendet sich die Welt denen zu, die sie für die Hauptanstifter dieser Barbarei hält: "Was wir in Deutschland gegenwärtig erleben, ist der Kampf der linksliberalen Eliten um ihre Deutungshoheit, die sie mehr und mehr bedroht sehen."
Seit Wiedervereinigung, Terrorattacken und Flüchtlingskrise sei der Zeitgeist nach rechts gewandert, konstatiert die Welt, und daher sehen sich die linksliberalen Eliten in der Defensive: "Sie fürchten, dass die Ära ihrer Deutungsherrschaft vorüber ist. Das macht sie so rabiat wie inquisitorisch. Vor allem aber gibt es ihnen eine Mitschuld an der moralischen Verwilderung der Debatten."
Jetzt endlich wissen wir, woher Alice Weidel und Horst Seehofer ihr flegelhaftes Benehmen haben – aus den grauenvollen Jahren der linksliberalen Deutungskultur.
Wahrscheinlich ist auch Otto Waalkes schuld, der Komiker, der am Sonntag siebzig wird. Er habe den Deutschen den Körper und den Geist befreit, schreibt die FAZ und: "Er hat seit 1973, seit seiner ersten Platte und seiner ersten Show, mehr für die Liberalisierung der Gesellschaft getan als irgend ein Politiker" – weil nämlich seine Komik die Ahnung von Zwangslosigkeit weckte.

Otto Waalkes schon zu Lebzeiten im Komikerhimmel

Die FAZ lässt ihre Eloge mit der ultimativen Erhebung in den Komikerhimmel ausklingen – Zitat: "Wenn man Otto unter Genieverdacht stellen darf, dann, weil seine Talente wie bei einem Kristall zusammenschießen: die immense Darstellungs- und Verwandlungskunst, die treffsichere Sprechweise, das makellose Gitarrenspiel, die Zeichen- und Malfertigkeit, alles immer wieselflink und mit sicherstem Timing eingesetzt." So viele Pauken und Trompeten haben schon lange nicht mehr für einen geklungen, den man einen "Blödelbarden" nennt. Und die Süddeutsche pflichtet bei: "Ein Könner, der so tut, als sei er ein Dilettant, der so tut als sei er ein Virtuose. Understatement teutonisch."
Die Süddeutsche macht sich Sorgen um smart city, "die Stadt, die nichts vergisst". Die Videotechniken, die für Fußballstadien entwickelt wurden, werden nach dieser Vision flächendeckend in Städten eingesetzt. Aus fest installierten oder drohnenbasierten Kameras könne jedes Ereignis aus mehreren Perspektiven eingesehen werden.

"smart city" - Utopie oder Dystopie?

So könnte man beispielsweise die Fahrt eines Terror-Lkw rekonstruieren. Google entwickele bereits Textilien, die alles aufzeichnen, was der Träger hört und sieht, so dass später jede Situation gleichsam vom Videoassistenten analysiert werden kann. Das Fazit ist düster: "Die Frage ist nur, ob diese kriminalistische Utopie sich mit dem Gedanken einer offenen und freien Stadtgesellschaft verträgt. … Die Gefahr ist, dass der urbane Raum zu einem panoptischen System degeneriert, in dem sich Bürger in vorauseilendem Gehorsam normkonform verhalten und selbstzensorisch ihres Stadtrechts entäußern."
Wenn "normkonform" bedeutet, dass die Leute wieder anfangen, sich zu benehmen und nicht mehr rabaukenhaft anbrüllen und bedrohen, hätte das System einen durchaus wünschenswerten Nutzen.
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