Aus den Feuilletons

Das "Rückgrat" der Ausstellung

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Ein Mann fotografiert im Jüdischen Museum die meterhohen weißen Papierfahnen, auf denen 962 Verordnungen aufgelistet sind, die von 1933 an gegen Juden erlassen wurden.
Nach mehr als zwei Jahren Vorbereitung hat das Jüdische Museum seine neue Dauerausstellung eröffnet. © picture alliance / dpa/ Britta Pedersen
Von Ulrike Timm · 22.08.2020
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Meterhohe weiße Papierfahnen mit 962 Verordnungen – die Frankfurter Rundschau hält das für das Herzstück der neuen Dauerausstellung im Jüdischen Museum. "Katastrophe" nennt sich der Epochenraum, der Antisemitismus in Form von Bürokratie zeigen soll.
Mund bedeckt, Ohren frei – eine Studie sorgt für Wirbel. Gesundheitsexperten der Berliner Charité halten es für möglich, klassische Konzerte vor vollem Saal zu veranstalten, vorausgesetzt, das Publikum trüge zuverlässig Mund-Nasen-Schutz. "Was kann die Bahn, was der Zuschauerraum nicht kann?", fragt nicht nur die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
Denn während es sich in Bahnen und Bussen wieder knubbelt, im Kino nur noch der Nebenplatz frei bleiben muss und die Restaurants sich langsam wieder füllen, gilt für die meisten Konzerthäuser: 20 bis 25 Prozent Platzausnutzung, mehr ist verboten. Vereinzelte Musiker auf dem Podium vor einem sich auf Rufweite vertröpfelnden Publikum, welch absurde Szenerie.

Fällige Diskussionen übers Musikleben

Für Verwirrung sorgte, dass die Leitung der Charité den optimistischen Vorstoß ihrer Experten als "nicht abgestimmt" kritisierte. Nur, so Jan Brachmann in der FAZ: "Das kann man den Medizinern nicht vorwerfen. Sie handeln als Institutsleiter eigenverantwortlich." Auch hatte es bei einer ersten Veröffentlichung im Mai keine Kritik gegeben.
Immerhin kommt jetzt wohl endlich Bewegung in die Debatte. Musiker und Konzertveranstalter verzweifeln zunehmend an den jetzigen Regeln, die Wirtschaftlichkeit ebenso ausschließen wie eine wirkliche Atmosphäre im Saal. Auch wenn es bei steigenden Coronazahlen wieder "Kurvendiskussionen" (SÜDDEUTSCHE ZEITUNG) gibt – es wird aber auch viermal so viel getestet wie im April –, sind die Salzburger Festspiele mit Tausend Menschen im Publikum nicht zum Hotspot geworden, in der Schweiz und Österreich dürfen so viele Musiker mitmachen, dass auch wieder Strauss‘ Elektra drin ist und nicht nur Kammerbesetzung.
Jeder weiß, es kann nicht von null auf hundert gehen. Aber Diskussionen, "die dem Musikleben dienlich sind", sind überfällig, so die FAZ. Winrich Hopp, künstlerischer Leiter des so corona-gerupften wie trotzig-ambitionierten Musikfestes Berlin, das in der kommenden Woche beginnt, sagt dazu in einem langen Gespräch mit dem TAGESSPIEGEL unter der Überschrift "Das Erlebnis des Hörens", Zitat: "Als Student war das Auftreten von Aids für mich ein unglaublicher Einschnitt. HIV ist bis heute nicht aus der Welt geschafft, wir haben gelernt, damit zu leben. Ich hoffe, wir kommen auch im Fall von Corona zu lebbaren gesellschaftlichen Formen."

Sinnliche Erfahrungen im Jüdischen Museum

Kultureller Höhepunkt der vergangenen Woche war ganz sicher die Präsentation der neuen Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlins, nach 20 Jahren hat man hier ganz neu gestaltet. "Großzügigkeit umfängt den Besucher mit einem weitläufigen Willkommen", freut sich Gustav Seibt in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, die Ausstellung sei nicht überfrachtet und korrespondiere klug mit dem eigenwilligen Bau von Daniel Libeskind, der ja selbst bereits Ereignis ist und insofern für jede Ausstellung in diesen Räumen immer auch eine Herausforderung.
"Umfangreich, fesselnd, viel Wissen vermittelnd und oft auch unterhaltsam" sei die Schau, so lobt die ZEIT. "Virtuell kann man mit 3-D-Brillen vier Synagogen anschauen, die zerstört wurden, es gibt Klangräume, in denen zeremonielle Gebetsmusik und Popmusik erklingt, und es gibt einen Ort der Stille, um sinnlich zu erfahren, wie sich Schabbat-Ruhe anfühlt", lesen wir in der SÜDDEUTSCHEN. Die ZEIT betont: "Das ‚Jüdische‘ in den gezeigten Objekten, sakral oder nicht, liegt weniger in ihnen selbst, sondern in den Konstellationen, in denen sie ihre jüdische Bedeutung zugewiesen bekommen." Es ginge um "1700 gemeinsame Jahre".
Die FR meint: "Auch wenn es das Haus ohne den Holocaust nicht gäbe, ist das zentrale jüdische Museum in Deutschland kein Holocaust-Museum. Und doch ist der Raum, der die Überschrift ‚Katastrophe‘ trägt, das Herzstück der neuen Ausstellung. Ihr Rückgrat. Und darin vor allem die meterhohen weißen Papierfahnen, auf denen 962 Verordnungen aufgelistet sind, die von 1933 an gegen Juden erlassen wurden. Antisemitismus in Form von Regierungspolitik, in Form von Bürokratie."

Eine fast unerschöpfliche Ausstellung

Der FAZ fehlt es zwar an Emotionen – "Wo bleiben Stolz und Zorn?" –, und doch scheint Andreas Kilb nicht unberührt geblieben zu sein. "Dort hängt eine Medienstation, die die Ausschreitungen gegen Juden im zeitlichen Verlauf durch kleine Blitze auf einer Umrisskarte Nazideutschlands darstellt. Bis zum November 1938 ballen sich die Blitze an Rhein, Main und Mosel, im Ruhrgebiet und in Berlin, dann feuern sie plötzlich über das ganze Land. Libeskinds gekipptes Fensterband läuft mitten durch die Medienstation hindurch. Wenn es einen gedanklichen Höhepunkt der Ausstellung gibt, dann liegt er genau hier, in der visuellen und expressiven Verdichtung von Geschichte."
Von diesem Wochenende an ist die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin zu sehen. Sie stellt mindestens so viele Fragen, wie sie Antworten gibt. "Diese Uneindeutigkeit ist eine Stärke, sie macht die Ausstellung fast unerschöpflich", lobt die Frankfurter Rundschau.
Den Murks der Woche gab es in Form eines Verordnungsentwurfs des Bundeslandwirtschaftsministeriums, und er geht so: "Einem Hund ist mindestens zweimal täglich für insgesamt eine Stunde Auslauf außerhalb des Zwingers zu gewähren." Geht’s noch?, fragte sich nicht nur die ZEIT. Sadistische Zwingerhaltung untersagt bereits der Tierschutzparagraf, und Jens Jessen meint, ob der auf den Hund gekommenen deutschen Regelungswut nur mäßig belustigt: "Bitte, verehrte Frau Ministerin, gehen Sie doch mal hinaus aufs Gassi." Besser zweimal als nur einmal, fügen wir noch an.
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