Aus den Feuilletons

Das Recht auf Unsichtbarkeit in der Genderdebatte

06:23 Minuten
Ein pinkes Sternchen ist auf gelbem Hintergrund zu sehen.
„Wenn es um geschlechtergerechte Sprache geht, fühlen sich die Menschen verpflichtet zu fragen, ob es nicht Wichtigeres gibt. Gibt es“, erklärt Nele Pollatschek in der „SZ“. © Deutschlandfunk Kultur
Von Arno Orzessek · 30.01.2021
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Hinter dem generischen Maskulinum kann man sich gut verstecken, wie Nele Pollatschek in der „SZ“ schreibt. Wird es nun abgeschafft und ist der Bäcker ganz sicher keine Frau mehr, dann „verengen wir den Raum der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit“.
Die Clubhouse-App gibt es seit dem letzten Frühjahr, aber zugegeben, wir haben erst davon gehört, nachdem Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow die Kanzlerin dort als "Merkelchen" tituliert und die Zeitung WELT AM SONNTAG den Vorfall verpetzt hatte. Dankenswerterweise gab die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG in dieser Woche eine regelrechte Clubhouse-Führung.
"Die Räume in der App Clubhouse, in denen sich Abend für Abend die coronabedingt vereinsamten Nutzer treffen, fühlen sich an wie gesellige Partys. Dass sich dort auch Prominente und Politiker einfinden und viel lockererer reden als in den abendlichen Talksshows, mutet zunächst einmal recht glamourös an. Clubhouse trifft in dieser Zeit einen Nerv und sorgt für ein informelles Zusammentreffen im Digitalen, das im echten Leben nicht möglich ist."

Bodo Ramelows männliche Ignoranz

So die FAZ-Autorin Andrea Diener, die zugleich warnte: "Clubhouse ist flüchtig. Zitate kann niemand überprüfen, wenn das Gespräch nicht zufällig mitgeschnitten wurde. Zitate kann nicht einmal derjenige überprüfen, der sie selbst getätigt hat."
Bodo Ramelow indessen stritt laut SÜDDEUTSCHER ZEITUNG seine Wortwahl gar nicht ab und erklärte bei Twitter:
Falls Sie Ramelows Rede vom "Merkelchen" übrigens auf zu viel Testosteron zurückführen – typisch breitbeiniger Mann halt – Vorsicht bitte!
"Mit dem Hormon Testosteron wird viel erklärt. Jedoch zu Unrecht", bemerkte Sonja Zekri in der SZ, und zwar nach der Lektüre des Buches "Testosteron – Warum ein Hormon nicht als Ausrede taugt" aus der Feder der US-amerikanischen Wissenschaftlerinnen Rebecca Jordan-Youngs und Katrina Karkazis.
"Solange es als ausgemacht gilt, dass Börsenmakler und Silicon-Valley-Milliardäre hohe Testosteronwerte aufweisen, stellt sich die Frage nach der Chancengleichheit gar nicht", paraphrasierte Zekri. "Erfolg und Einfluss hängen dann ab von der biologischen Grundausstattung, nicht von gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich verändern lassen. Die Biologie nimmt der Ungerechtigkeit das Skandalöse und macht sie zum individuellen Schicksal."

Wenn der Bäcker keine Frau mehr sein darf

Unter dem Titel "Es gibt eine Lösung für das Duden-Dilemma" beleuchtete die Tageszeitung DIE WELT die Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache. Hintergrund: Im Online-Duden wurden 12.000 Personenbezeichnungen gegendert. 'Lehrer' und 'Mieter' sind laut Duden nun stets männliche Personen, 'Lehrerinnen' und 'Mieterinnen' haben eigene Einträge bekommen. Für diese Maßnahme gab es, na klar, Schelte von den Liebhabern des generischen Maskulinums, das nach alter Sitte Frauen wie Männer meint oder genauer: gar kein biologisches Geschlecht.
"Kann sich der Dudenverlag aus der Misere befreien?", grübelte der WELT-Autor Marcus Lorenz. "Es gäbe in der Tat einen Lösungsweg. Das Online-Wörterbuch des Instituts für Deutsche Sprache geht ihn schon seit Jahren. Dort werden bei Lexemen wie Lehrer, Arzt usw. beide Wortbedeutungen angegeben: an erster Stelle die geschlechtsneutrale, an zweiter die männliche. Lehrer ist demnach eine 'Person, die unterrichtet', und kann ebenso bedeuten 'männliche Person, die unterrichtet'."In der SZ gab die Schriftstellerin Nele Pollatschek zur Duden-Causa zu bedenken:
"Wenn wir das generische Maskulinum abschaffen, verengen wir den Raum der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit. Wenn jede Berufsbezeichnung eindeutig mit einem Geschlecht verbunden ist, verschwindet der sprachliche Nebel, in den sich manche gerne kleiden, weil sie lieber ein wenig verschwinden, als permanent mit etwas identifiziert zu werden, mit dem sie oft nicht identifiziert werden wollen."
Origineller Einwand, oder?
Schon der Anfang des Artikels von Pollatschek, die seitens der SZ übrigens süffisant als "Schriftsteller" eingeführt wurde, hat uns gefallen:
"Es gibt Wichtigeres als diesen Artikel. Das zuerst, denn es geht um Änderungen zur geschlechtergerechten Sprache im Duden, und wenn es um geschlechtergerechte Sprache geht, fühlen sich die Menschen verpflichtet zu fragen, ob es nicht Wichtigeres gibt. Gibt es."

Liberale Kritik an den Corona-Maßnahmen

Auf welches wichtige Thema wir jetzt zu sprechen kommen, erraten Sie leicht. "Wie hältst Du's mit dem Lockdown?", fragte die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, deren Feuilleton gern Kritiker der exekutiven Maßnahmen zu Wort kommen lässt. In diesem Fall die Philosophen Philip Kovce und Michael Esfeld, letzterer ist Mitglied der Leopoldina:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist, wenn man so will, alternativlos. Zur Würde des Menschen zählt insbesondere die Freiheit, selbst zu entscheiden, welches Leben er führen, welche Risiken er eingehen, welche Beziehungen er pflegen will. Die Freiheit des einen hört in liberalen Demokratien selbstverständlich dort auf, wo sie andere konkret bedroht. Doch diese Bedrohung besteht – den ebenso freiwilligen wie wirksamen Schutz von Risikopersonen vorausgesetzt – durch das sogenannte 'Killervirus' gerade nicht."

Die AfD als Kämpferin für die bedrohte Freiheit

In der Wochenzeitung DIE ZEIT versuchte Thomas Assheuer zu erklären, warum "die AfD und ihre rechtsradikalen Denkfabriken Covid-19 verharmlosen":
"Die Partei hat eine Kehrtwende vollzogen. Waren ihr anfangs die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung nicht obrigkeitsstaatlich genug, so kämpft sie mittlerweile Seite an Seite mit dem 'unterdrückten Bürger' für die bedrohte Freiheit. Tatsächlich passt ihre neue Strategie viel besser ins metapolitische Programm, auch ihre rechtsradikalen Denkfabriken profitieren davon. Zum einen können sie nun alle behaupten, der 'BRD-Liberalismus' lege durch Merkels 'postdemokratische' Corona-Politik endgültig 'seine autoritäre Fratze offen'. Zum anderen bestätigt die 'übertriebene' Pandemiebekämpfung ihr Ausgangsdogma, wonach das liberale Weltbild zutiefst existenz- und geschichtsvergessen sei."
Tja, heißt das: Jeder, der die Maßnahmen der Exekutive kritisiert, rückt in die Nähe der AfD? Urteilen Sie selbst! Und falls Ihnen nicht gleich die richtige Antwort einfällt, bitten wir Sie mit einer Überschrift der SZ: "Auf keinen Fall locker lassen."
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