Aus den Feuilletons

Das Ende einer moralischen Ikone

Bundeskanzlerin Merkel und ein Flüchtling blicken Kopf an Kopf in die Handykamera des Mannes.
Das war einmal: Merkels Selfie mit einem Flüchtling in Berlin im September 2015 © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Arno Orzessek · 23.04.2016
Die "FAZ" schießt in ihrem Feuilleton die Bundeskanzlerin an: Hinter der angeblichen Unbeirrbarkeit Merkels in der Flüchtlingskrise stehe die Unwilligkeit, sich zu korrigieren. Ihr "moralischer Nimbus" sei angemaßt und müsse für eine Politik der Abschreckung herhalten.
"Warum mied Merkel die goldene Brücke?"
fragte in dicken Lettern die FRANKRUFTER ALLGEMEINE ZEITUNG.
Und tatsächlich hätte die Kanzlerin dem ehrpusseligen Erdoğan in der Causa Böhmermann ja zu verstehen geben können: Das mit der Staatsoberhaupt-Beleidigung, mein lieber Efendi, das lassen wir mal schön bleiben, Sie haben doch schon Privatklage angestrengt.
Der FAZ-Autor Christian Geyer ließ die Frage nach der unbegangenen Brücke indessen unbeantwortet und kaprizierte sich auf die Kritik an Merkels Doppelexistenz: einerseits Predigerin des humanitären Imperativs, andererseits kalte Flüchtlings-Dealerin mit der Türkei.
"Merkt Merkel nicht, dass ihre moralische Ikonenhaftigkeit ausgereizt ist? Wieso meint sie, eine solche weiterhin vor sich hertragen zu können? […] Es ist dieser angemaßte moralische Nimbus, der selbst noch für eine erheblich verschärfte Flüchtlingspolitik der Abschreckung herhalten soll, welche die Leute gegen die Kanzlerin aufbringt (und sie, so steht zu befürchten, […] für die neuesten AfD-Parolen anfällig macht). Immer deutlicher wird, dass hinter der angeblichen moralischen Unbeirrbarkeit Merkels schlichtweg auch die Unwilligkeit steht, sich zu korrigieren."
So der FAZ-Autor Geyer.
Ebenfalls in der FAZ unterbreitete die Soziologin Ayaan Hirsi Ali einen praktischen Vorschlag.
"Wenn wir nicht wollen, dass Mitgefühl in den Ruf nach Abschottung umschlägt, müssen unsere Politiker umdenken, und zwar rasch. […] Vor allem müssen wir wegkommen von der künstlichen Einteilung in Asylbewerber, Flüchtlinge und Wirtschaftsmigranten. Angesichts der massenhaften Zuwanderung ist dieser ohnehin untaugliche Ansatz praktisch sinnlos. Besser wäre es, die Leute hinsichtlich ihrer Integrationsbereitschaft auszuwählen"
meinte Ayaan Hirsi Ali.
Während der Historiker Phillip Ther in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG auf frühere Integrationserfolge zurückblickte:
"Sämtliche historischen Fälle, die heute als Beispiele einer gelungenen Integration gelten können, beruhten auf der Partizipation der Flüchtlinge. Als Ende des 17. Jahrhunderts Hugenotten aus Frankreich flohen (fast 100.000 von ihnen über Frankfurt am Main, das damals etwa 30.000 Einwohner zählte – das kann man tatsächlich als Flüchtlingskrise bezeichnen), entsandten sie Vermittler oder beauftragten bereits emigrierte Interessensvertreter, um über die Bedingungen der Aufnahme und der Ansiedlung zu verhandeln."
Indessen räumte der SZ-Autor Ther ein, das Beispiel sei letztlich doch kaum auf die Gegenwart zu übertragen.

Sapiosexuelle sind der letzte Schrei

Was auch daran liegt, fügen wir hinzu, dass die Wohlstandsgesellschaft extravagante Züge kultiviert – darunter die ewige Konjunktur des Sexuellen.
In der Tageszeitung DIE WELT erläuterte Matthias, warum sich obszöne Worte im Englischen und Deutschen oft ähneln – konnte aber eines auch nicht klären: "Warum nur heißt ein Blowjob so [wie er heißt]?"
Die TAGESZEITUNG kümmerte sich unter dem Titel "Schlau f* besser", in der wir das F-Wort durch Pfeifen ersetzt haben, um die "Sapiosexualität".
Wer immer, liebe Hörer, jetzt wissend nickt und so geistige Wachheit beweist, hat eine gute erotische Prognose.
Denn die Sache ist diese – wie Andreas Hartmann erklärte:
"Unter Sapiosexualität versteht man sexuelles Begehren, das eher durch den Intellekt des anderen als durch äußerliche Attraktivität ausgelöst wird. Würden wir also in einer Welt leben, in der Sapiosexualität die Norm wäre, könnten sich die chronisch untervögelten Wissenschaftsnerds der Serie ‚Big Bang Theory‘ vor eindeutigen Angeboten kaum retten."
Kaum nötig zu sagen, dass Sapiosexualität, im Umfeld von Dating-Börsen offenbar der letzte Schrei, total alt ist. Diskursmeister vom Schlage Jean-Paul Sartres mussten nie schön sein, um anziehend zu wirken.
Anziehend, ein Sex-Symbol und eine musikalische Sensation, spätestens, seit er mit "Purple Rain" die Weltbühne betrat: Das war Prince, gestorben mit 57 Jahren.
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG hielt Ueli Bernays fest:
"Es gehört lang vor Prince schon zur Eigenheit der Black Music, dass hier die expressiven Verfahren, die religiöse Verzückung ausdrücken, auch sinnliche Erfüllung simulieren können. Bei Prince aber scheint die Verbindung zur Religion gekappt, die religiöse Verbindlichkeit verdrängt, so dass nun das ganze Pathos an somatischen Instanzen hängen bleibt, der Sexus ist die Religion, die den Plexus der Musikalität dirigiert."
Ziemlich theoretisch: der NZZ-Autor Ueli Bernays.
Edo Reents hingegen gab in der FAZ unter der Überschrift "Wenn Tauben lila Tränen weinen" allgemeinverständlich bekannt:
"Unter den Pop-Giganten war Prince musikalisch mit Abstand der kompletteste und produktivste. Zumal im Vergleich mit Madonna und Michael Jackson."

Die Drachen fehlen bei Shakespeare

Unter den Schriftsteller-Giganten im Vergleich mit Shakespeare unterlegen – zumindest, wenn es um die Zahl der Artikel anlässlich ihrer 400. Todestage geht – ist Miguel de Cervantes, der Autor des Don Quichotte.
Unabhängig davon feierte ihn Reinhard Brembeck in der SZ als "Wunder und Witz der Welt".
"Typisch für all seine Werke ist, dass Cervantes keine Nebenfiguren kennt. Jede und jeder, den er auftreten lässt, darf stets seine Lebensgeschichte erzählen. Deshalb kommt die Handlung nie flott vom Fleck weg, der Leser aber […] begegnet so immer neuen Welten."
Letzteres kann auch von Shakespeare gesagt werden. Andererseits: Welche großen Worte wären über Shakespeare noch nicht gesagt worden?
Um das Pathos im Zaum zu halten, fragte DIE WELT, ob man sich eher mit der Fantasy-Serie "Game of Thrones" oder eben Shakespeare befassen sollte?
Felix Zwinzscher zögerte keinen Augenblick:
"Die Tatsache, dass ‚Game of Thrones‘ eine ergreifend fantasievolle Dichtung für unbeirrbare Erwachsene ist, während William Shakespeare nur unverständliche Zaudergeschichten ohne Einfallsreichtum geschrieben hat, sollte für sich stehen. Doch all das braucht es gar nicht, denn ‚Game of Thrones‘ hat Drachen. Shakespeare nicht."
Okay. Lassen wir das so stehen.
Wir wünschen Ihnen, liebe Hörer, dass Ihnen an diesem Sonntag die Worte über die Lippen kommen, mit denen die TAZ ihren Artikel zum 500. Jubiläum des deutschen Reinheitsgebots überschrieb:
"Heute läuft‘s richtig gut."