Aus den Feuilletons

Christo, der Weghexer und Wiederhervorbringer

04:10 Minuten
Eine Besucherin vor dem verhüllten Reichstag.
Nach über 20-jähriger Planung konnten Christo und Jeanne-Claude 1995 den Berliner Reichstag hinter aluminiumbedampftem Polypropylengewebe verstecken. © Getty Images / Ullstein Bild / Calle Hesslefors
Von Hans von Trotha · 01.06.2020
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Der Mann, der den Reichstag verhüllte, ist tot: Christo, der „Meister der Vergänglichkeit“, wie er im „Tagesspiegel“ genannt wird. Für die „FAZ“ war er der "Magier des stofflichen Verklärens".
Vielleicht ist es die strukturelle Flüchtigkeit der Kunst von Christo und Jeanne-Claude, die immer vorübergehend gewesen ist, die die Nachrufe auf Christo in den selbst flüchtigen Feuilletons besonders angemessen erscheinen lassen.
Christo verstand es, schreibt etwa Joseph Hanimann in der SÜDDEUTSCHEN, "die Blickfänge unserer Alltagswelt vorübergehend auszuschalten und dadurch umso schärfer als solche deutlich zu machen". Diesen Blick lenken die Feuilletons nun auf den, dem wir ihn zu verdanken hatten, auf den verstorbenen Christo selbst.

Christo - ein Impresario von Gnaden

Der TAGESSPIEGEL nennt ihn den "Meister der Vergänglichkeit", Stefan Trinks in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG den "Magier des Safrans", aber auch einen "Magier des stofflichen Verklärens". "Als Weghexer und Wiederhervorbringer", so Trinks, "war Christo immer auch ein Impresario von Gnaden, ein" - und da ist er noch einmal - "Magier, der nicht nur wie Thomas Mann seinen Kindern vorzauberte, vielmehr – selbst Kind geblieben – alle Zuschauer mit seiner Kunst wieder zu Kindern werden ließ."
In der WELT zitiert Hanns-Joachim Müller aus einem Interview, das der Künstler dem Blatt kurz vor seinem Tod gegeben hat, mit dem Satz: "Ich habe jeden Augenblick in meinem Leben genossen, habe so gelebt, wie ich es mir gewünscht habe" - und versteigt sich zu der etwas schrägen Analogie: "Rhetorisch schöner kann man den Abschied nicht verhüllen."

"Stoffbahnen haben etwas Zartes und Empfindliches"

Ebenfalls in der WELT erinnert sich Thomas Schmid an die Wirkung der Verhüllung des Reichstagsgebäudes 1995: "Das schwere Gebäude wurde leicht, der Wind, der um es strich, brachte es in Bewegung. Die Planen aus aluminiumbedampftem Polypropylengewebe, nach dem Ende der Aktion recycelt, änderten je nach Lichteinstrahlung ihre Farbe." "Stoffbahnen", zitiert Schmid den Künstler, "haben etwas Zartes und Empfindliches, sie verdeutlichen die einzigartige Qualität des Vergänglichen."
Vergänglichkeit als zentrales Motiv und doch ein Werk mit nachhaltiger, auch politischer Bedeutung:
"Demokratischer Faltenwurf oder apollinische Offenbarung der Schönheit", fragt Ingo Arend in der TAZ - ohne Fragezeichen übrigens, also eher als Überlegung. "Wie auch immer man Christo und Jeanne-Claudes Kunst interpretiert, vor allem erreichten sie damit die Autonomiebildung der Betrachter. Welche Fähigkeit", fragt Arend jetzt ausdrücklich, "könnte demokratischer sein?"

Marcel-Reich-Ranicki - der hemmungslose Kommunikator

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erinnern zudem gleich drei Autoren an den ehemaligen Literaturchef des Blattes Marcel Reich-Ranicki zu dessen Hundertstem. Der, so Andreas Platthaus, war "nicht nur ein Erzieher der deutschen Nachkriegsgesellschaft, sondern auch ein Zuchtmeister seiner Mitarbeiter".
"Es gab nicht viele Menschen", schreibt Paul Ingendaay, "deren Super-Ego man aus der Nähe mit größerem Vergnügen beim Dehnen und Beugen, beim Ein- und Ausatmen zuschaute: Marcel Reich-Ranicki war auch darin einzigartig, dass dem Bewusstsein der eigenen Bedeutung eine ebenso große Lust zu hemmungsloser Kommunikation entsprach" - und Ingendaay erinnert sich:
In der Woche, nachdem er als Gast beim Literarischen Quartett war, rief Reich-Ranicki ihn "noch drei- oder viermal an, um vom Verkaufserfolg ‚unserer‘ Bücher zu berichten. So war er", meint Ingendaay, "besser als jeder Staubsaugervertreter, der wahre Anwalt der Bücher."

Kritik als Garant der Meinungsfreiheit

Dass dahinter mehr steckte, ist Hubert Spiegel wichtig, der nicht nur zurückschaut, sondern das zum Anlass nimmt, der Kritik auch für die Zukunft eine Lanze zu brechen: Kritik sei für Reich-Ranicki "ein Garant der Meinungsfreiheit" gewesen, aber, so Spiegel, "das oft allzu wohlfeile Bekenntnis zur Meinungsfreiheit garantiert noch nicht das Überleben der Kritik. Es setzt ein Publikum voraus, das auf Kritik nicht verzichten will."
"Eine Kritik, die sich als bloße Dienstleisterin des Buchmarkts versteht, wird vermutlich weiterhin existieren, hat aber den Namen, den sie trägt, nicht verdient. Der Behauptungswille", so Spiegel, "ohne den die Kritik verloren ist und immer schon verloren war, hat sein wohl wichtigstes Fundament in einer Bemerkung, die nicht von Reich-Ranicki stammt: ‚Nicht zu vergessen, dass die Kritik, um etwas zu leisten, sich selber unbedingt bejahen muss.‘ Auch er hätte diesen Satz sagen können", schreibt Hubert Spiegel, "aber Walter Benjamin kam ihm 1930 zuvor, zehn Jahre, nachdem Marcel Reich-Ranicki geboren wurde."
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