Aus den Feuilletons

Castorf in München - Top oder Flop?

Theaterregisseur Frank Castorf
Der ehemalige Intendant der Berliner Volksbühne, Frank Castorf, gab nun sein Regie-Debüt am Münchner Nationaltheater. © dpa / picture alliance / Claudia Esch-Kenkel
Von Arno Orzessek  · 26.05.2018
Frank Castorfs Debüt am Münchner Nationaltheater, Philip Roths überraschender Tod, Jacob Burckhardts 200 Jahre altes Werk sowie Christian Krachts Poetik-Vorlesungen bewegten die Feuilletons der letzten Woche.
Die Bibelfesten unter uns werden es wissen: Die siegesgewissen Fragen: "Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?" – sie stehen im ersten Brief des Paulus an die Korinther. "Hölle, wo ist dein Sieg?" – so überschrieb ohne klaren inhaltlichen Bezug auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG ihre Besprechung eines Stücks, an dem in der vergangenen Woche kein Feuilleton vorbeikam, nämlich Frank Castorfs Inszenierung von Leoš Janáčeks düsterer Oper "Aus einem Totenhaus" nach dem gleichnamigen Dostojewski-Roman. Immerhin handelte es sich um Castorfs Regie-Debüt am Münchner Nationaltheater – nach langen Jahren als Intendant der Berliner Volksbühne. Lassen wir die verwickelten Einzelheiten der Aufführung, die der SZ-Autor Wolfgang Schreiber klug auseinanderfädelte, hier beiseite. Kommen wir direkt zu Schreibers Resümee: "Kunsttriumph und Ovationen für das Großensemble des Münchner Opernhauses."
Zwar wollen wir niemandes Vertrauen in die Presse erschüttern, doch es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG "die Buhrufe am Ende" hervorhob. Und auch die Kritik des NZZ-Autors Marco Frei war in erster Linie ein Buhruf: "Frank Castorf gerät sein Regie-Debüt zur opulenten Selbstinszenierung. An dieser Oper hat er schlicht vorbei inszeniert." Kaum weniger unzufrieden Mirko Weber in der Wochenzeitung DIE ZEIT: "Man wird den Eindruck nicht los, dass auch Frank Castorf mittlerweile ein Gefangener ist: der seiner eigenen Systematik. Castorf kann noch Funken schlagen, allein: Als Feuerkopf zu altern, bleibt ein Problem für Künstler."
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Philipp Roth ist im Alter von 85 Jahren gestorben.© picture alliance / dpa

Roth: Spezialist für das Magma menschlicher Leidenschaften

Seinerseits ein Feuerkopf und ein Spezialist für das Magma menschlicher Leidenschaften - das war Philip Roth. Zum Tod des amerikanischen Schriftstellers, der 2012 nach dreißig Romanen mit dem Schreiben aufgehört hatte, belobigte sein Kollege T. C. Boyle in der Tageszeitung DIE WELT das Debüt-Werk Goodby, Columbus: "Es versetzt mich immer sofort zurück in eine andere Zeit in meinem Leben, eine, in der ich jung und verliebt war und mich entlang der Grenzen zum Erwachsenenleben und Sexualität entlangtastete, als wäre ich ein Blinder und die Wahrheit in Blindenschrift geschrieben. Es ist herzzerreißend und herzzerreißend schön. Die erste Liebe, Sommerliebe, Liebe, die ihre ganze hormongesättigte Größe aus deeinn Poren atmet, aus der feuchtwarmen Luft, aus dem Nichts, das immer war und immer sein wird – das ist es, was Roth uns gegeben hat.", so T. C. Boyle über Roths Roman Goodby, Columbus, dessen Titel auch Widerhall in der Überschrift von Hannes Steins Nachruf in der WELT fand. Sie lautete: "Goodby, Gigant". Von den Stimmen der Prominenten, die anlässlich von Roths Tod in der SZ zu Wort kamen, hier die beiden nettesten.
Mit Blick darauf, dass Roth den Nobelpreis nie erhalten hat und sich die Akademie in Stockholm zur Zeit zerfleischt, bemerkte der Schriftsteller Peter Glaser zugleich listig und lustig: "Dass in dem Jahr, in dem Philip Roth stirbt, der Literaturnobelpreis nicht vergeben wird, ist angemessen." Wie ein letzter Flirt mit dem Verstorbenen klang dagegen der Nachruf der US-amerikanischen Regisseurin und Autorin Lena Dunham: "Ruhe in Frieden, süßer Prinz von Newark".
Zeitgenössisches Porträt des schweizer Kunst- und Kulturhistorikers Jacob Burckhardt (1818-1897)
Zeitgenössisches Porträt des schweizer Kunst- und Kulturhistorikers Jacob Burckhardt (1818-1897)© picture-alliance / dpa / Bifab

Burckhardt: In puncto Fakten ein Freigeist

Vergleichbare Zärtlichkeiten wurden dem gestrengen Historiker Jakob Burckhardt unseres Wissens öffentlich nie entgegengebracht. Zu dessen 200. Geburtstag erläuterte Jürgen Kaube unter der Überschrift "Altgierig auf jede große Einzelheit" in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG: "Jacob Burckhardt betrieb eine Geschichtsschreibung der gemischten Gefühle über verlorene Freiheit. Dem Individuum, das sich gegenüber religiösen, ständischen und staatlichen Mächten behauptet, hat er in seiner ‚Cultur der Renaissance in Italien‘ ein Denkmal gesetzt. Und zwar eines, das alle Rücksichtslosigkeiten, alle Gewalttätigkeit, Niedertracht und allen Zynismus wie Hochmut dieser Epoche mit darstellt. Das Erstaunen darüber, dass etwas so Chaotisches wie die italienische Renaissance zur ‚Mutter unserer Civilisation‘ werden konnte, liest man heute noch aus jeder Zeile Burckhardts. Es hat ihn zur Abneigung gegen lineare Geschichtsmodelle geführt: Unsere eigenen Freiheiten sind die Erben von Verbrechen, Egoismen und Lastern." Jürgen Kaube in der FAZ. Sollten Sie, liebe Leser, vorhaben, endlich mal die berühmte Cultur der Renaissance in Italien zu lesen, möchten wir Sie darin bestärken, geben aber zu bedenken: In puncto Fakten war Burckhardt ein freier Geist.
Wie auch der Historiker Volker Reinhardt in der NZZ unterstrich: "Burckhardts Bild der Renaissance ist stark emotional eingefärbt und entsprach schon zu seiner Entstehungszeit nicht den wissenschaftlichen Standards, wie sie das Werk Leopold Rankes kennzeichnen. Doch so begründet dieser Vergleich ist, er tut dem Werk des Basler Weltweisen schweres Unrecht. Denn durch die Kunst der Darstellung, nicht zuletzt der Erfindung, und des Stils gehört seine ‚Cultur der Renaissance‘ zur Weltliteratur."
Der Schweizer Christian Kracht.
Der Schweizer Autor Christian Kracht. © picture alliance / David Taylor

Christian Krachts Poetik-Vorlesungen

Christian Kracht, den einen ein Schnösel, den anderen ein Begnadeter der Literatur, ist womöglich noch nicht ganz auf Weltniveau angekommen. Was aber nichts daran ändert, dass seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen in den Feuilletons stark beachtet wurden, zumal Kracht offenlegte, als Kind missbraucht worden zu sein. Dazu Ijoma Mangold in der ZEIT: "Ein Werk, dessen Größe gerade darin liegt, unkontrollierbare Bedeutungswellen auszulösen, könnte jetzt auf diese eine autobiografische Lesart reduziert werden. Aber natürlich ist das Authentische nur eine Ebene im Spiel der Literatur. Der restlose Verlust an Zweideutigkeit ist nichts, was dem Werk Krachts zu wünschen wäre." Okay, das war’s schon. Was immer Sie an diesem Sonntag tun, liebe Leser, entscheiden Sie sich – mit einer SZ-Überschrift – "Gegen die Fadheit". Treiben Sie es lieber so bunt, dass Sie Grund haben, mit der WELT auszurufen: "Wie das knallt!"
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