Aus den Feuilletons

"Bitte alle Reklame zu mir!"

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Hinweis "Keine Werbung" an einem Briefkasten.
Im Gegensatz zu diesen typischen Hinweisen auf Briefkästen, freut sich ein "Tagesspiegel"-Autor tatsächlich über Werbeblättchen. © imago-images / mhphoto / Mario Hösel
Von Gregor Sander · 23.03.2021
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"Tagesspiegel"-Autor Ulrich Amling outet sich als Reklame-Fan. Sein jahrzehntelanges Studium von Werbeblättern habe aber durchaus zu Erkenntnisgewinn geführt, gibt er zur Verteidigung an.
Im vergangenen pandemischen Jahr hat eigentlich nichts so reibungslos geklappt, wie der tägliche Besuch im Supermarkt.
Abgesehen von kurzzeitigen Toilettenpapierengpässen und obwohl wir inzwischen wissen, dass so ein Einkauf virenverbreitungstechnisch gefährlicher ist als ein Theaterbesuch, bleiben die Bretter, die die Welt bedeuten, vernagelt, während die Registrierkassen fröhlich weiter piepen. Liegt es daran, dass auch im Feuilleton das Thema Kassenband plötzlich hochaktuell ist?
"Die Frage, wer den Plönkel wo hinlegen soll, beschäftigt die Menschen", behauptet etwa Paul Jandl in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, meint mit Plönkel diesen Holz- oder Plastikstab, der den eigenen Einkauf von dem der Vorderfrau oder des Hintermannes trennt, und er gibt zu bedenken:
"Studien aus dem Jahr 2016 haben gezeigt, dass ihn mehr als die Hälfte der Deutschen hinter die eigenen Einkäufe legt. 16 Prozent legen ihn davor aufs Band."

Die wunderbare Lektüre der Werbeblätter

Bevor man auch nur darüber nachdenken kann, wohin man denn nun selber den Plönkel platziert, outet sich Ulrich Amling im Berliner TAGESSPIEGEL:
"Dass mit mir etwas nicht stimmen kann, sieht man schon an meinem Briefkasten. Während an allen umgebenden Metallboxen Aufkleber mehr oder weniger freundlich darum bitten, hier keine Werbung einzuwerfen, muss ich mich beherrschen, keine freudige Einladung zu formulieren: Bitte alle Reklame zu mir!"
Das klingt natürlich wirklich etwas bedenklich, auch wenn Amling betont, dass das Studium der Werbeblätter durchaus zu Erkenntnisgewinn führt: "Eine Zeit lang galt es bei Talkshow-Moderatoren als besonders volksnah, ihre prominenten Gäste danach zu fragen, ob sie eigentlich wissen, was denn gerade ein Paket Butter kostet", stöhnt der TAGESSPIEGEL-Autor:
"Für mich war es unerträglich, zu sehen, wie manche sich da herauszuwinden versuchten. Aus meinem jahrzehntelangen Inseratenstudium könnte ich dagegen fein differenzierte Antworten liefern: für Bio- oder Weidebutter, regionale oder europäische Ware, mit oder ohne Salz."

Das Zelebrieren des Einkaufs

Selbst in der Literatur wird die Handlung inzwischen um das Kassenband platziert. Sophia Zessnik  hat für die TAZ das Debüt von Jan Koslowski gelesen. "Rabauken" heißt es und an der Kasse im Text wirft es die Kritikerin aus der Verständnisbahn:
"Die Zelebrierung von Einkäufen organischer Lebensmittel - 'eine Bergamotte, ein regionaler Senf, welcher den Namen einer fernen Stadt trägt, eine kleine Flasche Birnenessig, Tofu aus dem Schwarzwald, zwei Flaschen Roséwein aus dem Land der Salzwiesen der rosa Vögel und der weißen Pferde' - klingt beinahe schon unangenehm prätentiös", stöhnt die Kritikerin und findet dafür folgende Erklärung:
"So recht schlau wird man nicht aus dem Alltag dieser jungen Menschen - jung müssen sie sein, um eine so volatile Lebenseinstellung zwischen Laisser-faire und dolce far niente noch für erstrebenswert zu halten."

Wenn die Töchter den Vater zurechtweisen

Dass diese Haltung aber auch durchaus von älteren Semestern eingenommen wird, berichtet Michael Pilz in der Tageszeitung DIE WELT:
Es kann einem passieren, dass man für seine erwachsenen Töchter kocht, dabei Musik hört und gefragt wird: "Sag mal, was hörst du denn da?" Man hört zum Beispiel 'Peaches' von den Stranglers wie vor vierzig Jahren: "Walking on the beaches, looking at the peaches." Die Eindeutigkeit der Doppeldeutigkeit des Wortes peaches wird von den erwachsenen Töchtern als sexistisch gewertet und der kochende Vater stöhnt.
"'Sag mal, was hörst du denn da?' war früher eigentlich keine Frage, die man seinen Eltern stellte. Eltern fragten ihre Kinder, was sie da um Himmels willen hörten."
Ja, so ändern sich eben die Zeiten. Wem nun aber die Frage nach der Platzierung des Plönkels auf dem Kassenband vom Anfang nicht aus dem Kopf gegangen ist, den beruhigt Paul Jandl in der NZZ:
"Rund ein Drittel der Deutschen legt übrigens den Plönkel mal vor sich, mal hinter sich aufs Kassenband."
Es ist also durchaus möglich, sich auch im Supermarkt kreativ auszudrücken. Aber vielleicht machen ja doch trotzdem irgendwann die Theater wieder auf.
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