Aus den Feuilletons

Auf das E-Charisma kommt es an

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Angela Merkel, Ursula von der Leyen, Emmanuel Macron, Charles Michel und Xi Jinping bei einer Videokonferenz.
Ab einer bestimmten Position ist das mit dem E-Charisma dann doch nicht mehr so wichtig, wie man an diesen fünf Spitzenpolitikern sehr gut sehen kann. © Johanna Geron / Pool / AFP
Von Arno Orzessek · 02.01.2021
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Auch bei Videokonferenzen sollte man auf seine Ausstrahlung achten, meint die "Süddeutsche". Um das E-Charisma zu steigern, solle man sich selbst hell erleuchten, großflächig auf dem Bildschirm erscheinen, ausgiebig nicken und extra langsam brüllen.
Die TAGESZEITUNG interessierte sich – sehr löblich – mitten in der Pandemie dafür, was Kinder nach der Pandemie so machen wollen. Schriftliche Antwort der elfjährigen Elsa: "Wenn der ganze 'Scheiß' vorbei ist, mach' ich mir erstmal ein paar schöne Tage zu Hause." Das war natürlich ein Witz, ein guter Witz, zumal Elsa auch noch ein Kind auf einer Couch gemalt hatte, das ausruft: "Ahh, wie gemütlich!"
Ebenfalls interessant: die post-pandemischen Pläne des neunjährigen Filmon. "Paaaaartyyyy!!! Und dann trink ich meinen ersten Schnaps darauf, dass Corona vorbei ist", ließ Filmon die TAZ wissen, war aber wohl besorgt, dass seine Eltern das mit dem Schnaps mitbekommen könnten, und fügte hinzu: "Spaß! Ich würde ganz viele Freunde treffen und alle Geburtstage nachfeiern."

Zum Abschied einen Drink

Ums Trinken ging es zum Jahreswechsel auch in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Unter dem Titel "Zum Abschied einen Drink" erinnerte Niklas Maak an den in Deutschland still übergangenen 100. Jahrestag der Prohibition, sprich: das Alkoholverbot in den USA, das am 20. Januar 1920 ausgesprochen worden war.
"Jazz und Flappers", so Maak, "gediehen im halblegalen Schummerlicht enger Speakeasys noch besser als auf offenen Bühnen, und der Alkohol war mehr noch als sonst zum Kulturtreiber – und zum Kontaktbeschleuniger geworden. Genau deswegen wird er jetzt im Lockdown wieder ins Private abgedrängt, nur dass es diesmal nicht darum geht, die schädliche Wirkung des Alkohols einzudämmen, sondern die des Kontakts, den er begünstigt."


Sandra Kegel bedachte in selbiger FAZ den Geschlechteraspekt des Trinkens:
"'Geht ein Mann an einer Bar vorbei…' – der alte Witz hat seine Pointe eingebüßt, seit Frauen den Männern auch beim Trinken den Rang abgelaufen haben. Sie greifen so häufig zum Glas wie nie zuvor, und nur weil es ihnen nicht behagt, diesen überwundenen Genderpegelgap sichtbar zu machen, bleibt dem bitteren Scherz ein letztes Quentchen Wahrheit. Frauen können weiterhin zwanglos an einer Bar vorbeilaufen, denn sie bevorzugen das hemmungslose Trinken im Verborgenen."
Ob in der FAZ-Redaktion bei der Planung der Trink-, Drink- und Trunkenheitsartikel zum Glas gegriffen wurde, wissen wir nicht. Fest steht, dass Jürgen Kaube in seiner Reflexion über Alkohol und Literatur nüchtern befand: "Das endlose Trinken ist traurig" und Joachim Müller-Jung spöttisch anhob:
"Ein prophylaktischer Absacker noch: Diese hochprozentige FAZ-Artikelsammlung darf im Jahr der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, das ein Berliner Radiophilosoph immerhin als das Jahr der 'virologischen Käfighaltung' verabschiedete, ja kaum schließen, ohne auch nur ein warnendes Wort über die fragile Beziehung zwischen Trank und Geist zu verlieren."
Ums kurz zu machen: Laut Müller-Jung schädigt Alkoholkonsum insbesondere in drei Lebensphasen das Gehirn: "Vor der Geburt, im Alter zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren sowie von 65 Jahren an, wenn der Alkohol zum 'stärksten beeinflussbaren Risikofaktor' für eine Demenz wird."

"Es kommt auf E-Charisma an"

Anders als die FAZ blieb die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG zum Jahreswechsel trocken. Sie hielt im neuen Jahr als Erstes Ideen aus dem alten Jahr fest, die in die Zukunft weisen, und bezog sich in einem Fall auf das Wall Street Journal, das angesichts von Homeoffice und Videokonferenzen behauptet hatte: "Es kommt auf E-Charisma an." Dem stimmte die SZ zu, wenn auch leise bedauernd:
"Das mit dem E-Charisma ist eine schlechte Nachricht für all jene, die es schon im normalen Leben an Charisma fehlen lassen. Zum Glück ist das Internet voller Tipps. So soll das Gesicht mindestens ein Drittel des Bildschirms einnehmen. Und 'Stellen Sie sicher, dass Sie mit einer Schreibtischlampe gut beleuchtet sind.' Zudem solle man oft nicken. Die Stimme darf deutlich sein, denn der Ton verliert auf dem Weg der Übertragung an Präsenz. Außerdem solle man eben deshalb betont langsam sprechen. Zusammengefasst: E-Charisma ist, wenn wir, nickend wie Wackeldackel, großflächig und illuminiert auf dem Bildschirm erscheinen und extra langsam rumbrüllen."

Corona, Diabetes und die Medien

Der SZ-Artikel hatte einen Aspekt von pandemischer Heiterkeit, die Tageszeitung DIE WELT machte dagegen ernst und fragte in dem Artikel "Die Toten":
"Nur wenige Menschen kannten ein Corona-Todesopfer persönlich. Dennoch ängstigen uns die täglichen Zahlen der Gestorbenen. Warum ist das so?" Einen entscheidenden Anteil an der speziellen Corona-Wahrnehmung rechnete der WELT-Autor Jörg Phil Friedrich den Medien zu und tat etwas, was Corona-Mahner gar nicht mögen: Friedrich verglich Corona mit Diabetes, eine Krankheit, die Jahr für Jahr weit mehr Opfer fordert als Corona:
"Die Corona-Pandemie begegnet uns als Jahrhundertereignis, das plötzlich und scheinbar unerwartet auftritt und – Stichwort 'Welle' – mit zerstörerischer Gewalt über uns hinwegrollt. Diabetes hingegen ist schon lange da, hat sich eingeschlichen und als es zum ersten Mal überhaupt in den Medien Thema wurde, war es bereits Gewohnheit, hatte keinen Neuigkeitswert mehr und machte deshalb auch keine Angst, die wieder nach mehr Informationen oder politischen Reaktionen verlangte."
Bevor Sie einwenden, aber Corona droht unser Gesundheitssystem zu überfordern, Diabetes nicht, und darum geht es, sagen wir: Das sieht der WELT-Autor Friedrich genauso. Trotzdem hat es uns gefallen, dass Friedrich den Covid-19-Tod in ein realistisches Verhältnis zu einer zehnfach häufigeren Todesursache gesetzt hat.
Etwas platt, aber nicht falsch, titelte übrigens die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: "Wer gesund stirbt, ist genauso tot". Soweit die Feuilletons der vergangenen Woche. Nur eins noch: Im alten Jahr titelte die FAZ: "Nächstes Jahr wieder knutschen." Und jetzt, jetzt ist dieses nächste Jahr. Darum: Viel Spaß und alles Gute!
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