Aus den Feuilletons

Anschwärzerei oder Anstandslosigkeit?

04:10 Minuten
Annalena Baerbock hält während einer Rede ein Mikrofon in der Hand.
Annalena Baerbock sieht sich nach der Debatte um ihren Lebenslauf nun wegen ihres Buchs "Jetzt" mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert. © imago-images / Martin Müller
Von Burkhard Müller-Ullrich · 30.06.2021
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In den Feuilletons herrscht Aufregung wegen der Plagiatsvorwürfe gegen Annalena Baerbock. Während in der "Süddeutschen" ein moderater Ton angeschlagen wird, ist die Kritik in der "Frankfurter Allgemeinen" deutlich rigoroser.
Wenn der alte Spruch: "Lieber eine schlechte Presse als gar keine Presse" zuträfe, wäre Annalena Baerbock auf dem besten Weg ins Kanzleramt und müsste sich angesichts der vielen Negativschlagzeilen keine Sorgen machen.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Nach den aufgedeckten Schummeleien in ihrem Lebenslauf werden jetzt ihre Unzulänglichkeiten als Buchautorin zum ganz großen Thema. Und da verstehen die Feuilletons keinen Spaß, denn:
"Warum schmücken sich Politiker mit einem Buch?", fragt Marc Reichwein in der WELT und gibt die Antwort: "Weil ein Buch immer noch kulturelles Kapital einspielt. Wenn man auf dieses Kapital setzt, sollte man aber auch die Kulturtechniken beherrschen, die mit diesem Kapital verbunden sind. Autorschaft und Authentizität."

Verurteilung und Verteidigung von Baerbock

Klar ist, dass das Baerbock-Buch zu viele fremde Versatzstücke enthält, um nicht mit dem hässlichen Plagiatsbegriff belegt zu werden. Ein Grund dafür mag die Schnelligkeit der Entstehung gewesen sein, wie Reichwein vorrechnet: "Zwischen der Ankündigung, dass Annalena Baerbocks Buch bei Ullstein erscheint, und dem Erscheinen lagen gerade mal acht Wochen."
Aber das entschuldigt noch gar nichts. Gustav Seibt hingegen gibt sich in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG Mühe, Baerbock auf eine grundsätzliche Weise zu verteidigen: Ihr Buch sei zwar in etlichen Formulierungen nicht eigenständig und auch gedanklich nicht originell:
"Doch was hatte man erwartet? Parteiprogramme sind Resultate von kollektiven, langwierigen Willensbildungsprozessen, in denen individuelle Farben zwangsläufig ausgewaschen werden."
Das würde bedeuten, dass es kein einziges Buch eines Politikers geben dürfte, das nicht phrasenhaft öde wäre, was ja Seibt selber nicht glauben kann. Seltsamerweise treibt ihn sein Bedürfnis, Baerbock in Schutz zu nehmen, so weit, dass er scharf gegen all jene schießt, die Baerbocks Abschreiberei aufgedeckt haben:
"Wer Suchmaschinen mit einiger Geschicklichkeit zu bedienen versteht", behauptet er, "kann vom Homeoffice aus Karrieren ruinieren. Nie war es leichter, Personen anzuschwärzen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen."

Forderung nach einer Entschuldigung

Dabei unterschlägt er jedoch etwas Wesentliches, nämlich dass die Suchmaschinen auch gleichartige Texte finden müssen. Da ist Paul Ingendaay in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG deutlich rigoroser:
"Baerbock und ihr Verlag haben mit der Veröffentlichung dieses Buchs den publizistischen Anstand verletzt. Statt Empörung über eine angebliche Rufmordkampagne wäre eine Entschuldigung fällig", dekretiert er und mag sich auf die Diskussion, ob es bei den fraglichen Passagen nur um "allgemein zugängliche Fakten gehe", wie ein Parteisprecher zu beschwichtigen versuchte, gar nicht einlassen.
Für Ingendaay gilt eisern: "Wer bewusst gewählte Formulierungen, neu geprägte Begriffe oder stilistische Eigenheiten eines fremden Textes übernimmt, kommt nicht darum herum, es durch Anführungszeichen und Quellenangabe auszuweisen."

Kritik am Begriff "Corona-Party"

Eine andere Art von Philologie führt in der WELT Andreas Rosenfelder vor, indem er in verschiedenen Zeitungen Berichte über sogenannte "Corona-Partys" – ein Unwort, das die autoritäre, übergriffige und freiheitsfeindliche Mentalität der jeweiligen Journalisten widerspiegelt – analysiert. Ein Beispiel aus dem Berliner TAGESSPIEGEL:
"Wenn die Nacht kommt, werden alle Regeln schnell vergessen", heißt es da im menschelnden Tonfall eines Oberwachtmeisters, der seine Pappenheimer kennt: "Tausende feiern immer wieder in Berlins Grünanlagen." Dass dieses soziale Geschehen ein Problem ist, setzt der Text stillschweigend voraus – ohne jede sachliche Begründung, die im Sommer 2021 auch schwer zu liefern wäre.
Hier zeigt sich, wie die Pandemiebesessenheit in die Zeitungssprache eingesickert ist, welche sie wiederum befeuert, und das herauszuarbeiten, ist heute Rosenfelders großes Feuilletonverdienst.
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