Aus den Feuilletons

Anarchische Passanten

04:20 Minuten
Skulpturen von Alberto Giacometti in der National Gallery of Art in Washington
Alberto Giacomettis Skulpturen fügen sich schwer in einen konkreten räumlichen Kontext ein, heißt es in der "SZ". © picture alliance / Design Pics / Chris Parker
Von Arno Orzessek · 19.07.2020
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"Sie schreiten frei von Raum und Zeit von einer Ewigkeit in die nächste", heißt es in der "Süddeutschen Zeitung" über die Menschengestalten des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti. Anlass ist eine Ausstellung in Paris.
Bestimmt kennen Sie die betont vertikalen Menschengestalten des Bildhauers Alberto Giacometti und womöglich auch dessen berühmte Passanten. Jene Figuren, bei denen sich der spindeldürre, leicht vorgebeugte Rumpf in zwei noch viel spindeldürrere Beine teilt, deren eines weit nach vorn ausschreitet.
Von diesen Figuren behauptet die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG: "Sie schreiten frei von Raum und Zeit von einer Ewigkeit in die nächste." Tja, ist das ein großartiger Satz oder typisches Feuilleton-Getue? Irgendwie können wir uns zu keinem klaren Urteil durchringen. Aber egal. Der SZ-Autor Joseph Hanimann ist Giacomettis Passanten in der Pariser Ausstellung "L'Homme qui marche" begegnet und er berichtet:
"Seltsam, statt Bewunderung löst das Ensemble zunächst eher Verwunderung aus mit der albern sich aufdrängenden Frage Loriots: 'Ja, wo laufen sie denn?' Denn eigentlich müsste jede dieser Skulpturen ihren eigenen Raum haben. Nur ist das in den wunderbaren, aber engen Sälen der Pariser Ausstellungsvilla im Montparnasseviertel nicht möglich. So laufen sie alle durcheinander, und es wiederholt sich vor unseren Augen das, was Giacometti bei seiner Arbeit oft selber qualvoll erfuhr. Seine Skulpturen fügen sich schwer in einen konkreten räumlichen Kontext ein."

Die diskriminierte Kneipe

Für Menschen aus Fleisch und Blut bieten Kneipen einen überaus konkreten räumlichen Kontext. Allein, coronahalber blieben dort seit Monaten die Zapfhähne trocken. Und das findet Dirk Schümer, laut der Tageszeitung DIE WELT in einer "Bierkneipe im westfälischen Soest sozialisiert", total ungerecht:
"Wie anders als durch Verachtung wäre zu erklären, dass Biergärten und Imbisse viel schneller wieder zugelassen wurden als Kneipen. Sich beim Genuss von Leberkäs oder Schnitzel zu betrinken oder in froher Runde Kartoffelsalat zu kauen, gilt im Ordnungsamt augenscheinlich als Kultur – der rohe, direkte, unabgelenkte Griff zum Bier- und Kornglas hingegen als Barbarei. Am Essenstisch dürfen Menschen beisammensitzen; an der Theke nicht. Was für ein Quatsch!"

Mit "Cocktails To Go" gegen das New Yorker Barsterben

Dass die Versorgung von Menschen mit Promille derzeit ein wichtiges Thema ist, entnehmen wir auch der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Frauke Steffens berichtet, was man im coronageplagten New York unternommen hat:
"Um den Bars der Stadt eine Überlebenschance zu geben, führte Bürgermeister Bill de Blasio im März 'Cocktails To Go' ein. Wo die New Yorker sonst nicht auf der Straße und in Parks trinken durften oder ihr Bier in braunen Papiertüten verstecken mussten, können sie sich nun frei mit einem Drink in der Hand bewegen. Das hieß allerdings schon vor der Lockerung der Schutzmaßnahmen, dass sich Menschengruppen vor Kneipen bildeten. Wie Mardi Gras, der Karneval in New Orleans, muteten die Straßen des East Village oder des Viertels Hell's Kitchen an, schrieben Zeitungen. Und die trinkenden Gruppen können vielleicht Bars, nicht aber Clubs und Musikkneipen am Leben halten."

Gegen die Pärchendiktatur

Womöglich wird es also künftig noch wichtiger, sich auf "die Kunst des Alleinseins" zu verstehen, über die in der TAGESZEITUNG Barbara Dribbusch nachdenkt und gleich mal klarstellt: "Es ist schöner, sich als AlleingängerIn dorthin zu bewegen, wo nicht die Pärchendiktatur herrscht mit ihrem heteronormativen Zugehörigkeitskonzept."
'Pärchendiktatur', wow! Ob Barbara Dribbusch dafür wohl Ärger wegen Mehrheitsdiskriminierung bekommt? Von uns bestimmt nicht. Im Übrigen führt die TAZ-Autorin aus:
"Die Zuschreibung des Verlierertums an AlleingängerInnen lässt sich im öffentlichen Diskurs beobachten. Auf ältere alleinstehende Frauen etwa richten sich die immer gleichen Fantasien der Umgebung: Ist sie geschieden? Kriegt sie keinen Mann mehr? Dabei könnte man SolistInnen auch als AbenteurerInnen sehen. Und AlleingängerInnen können ja durchaus irgendwo eine Partnerin haben, nur unternehmen sie eben auch gerne mal was ohne Begleitung."
Spürbar missmutig: Barbara Dribbusch.
Leider fehlt uns nun die Zeit, um die Presseschau zum Wochenstart noch ins Heitere zu wenden. Aber vielleicht können Sie ja auch mal ohne Anlass in das ausbrechen, was der FAZ eine Überschrift wert ist, nämlich: "Befreiendes Gelächter."
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