Aus den Feuilletons

Als Berlin in Asche lag

Luftaufnahme von Berlin 1945
Luftaufnahme vom Berliner Reichstag und dem Spreebogen am 20. Mai 1945. © imago/ITAR-TASS
Von Arno Orzessek  · 07.05.2015
Anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs zitiert der "Tagesspiegel" den Filmregisseur Billy Wilder. Er flog damals über Berlin: "Ich sah die Trümmerwüste. Es sah aus wie das Weltende."
"Den 8. Mai gab es nicht", titelt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG.
Aber nicht etwa, weil sie eine historisch-kalendarische Sensation aufgedeckt hätte…
Sondern weil ihr Gesprächspartner, der Künstler Günther Uecker, den Tag des Kriegsendes an diesem Freitag vor 70 Jahren im Tumult der Ereignisse gar nicht richtig mitbekommen hat.
Uecker, damals 15 Jahre alt, lebte auf der Ostsee-Halbinsel Wustrow, wo seit Monaten Flüchtlingstrecks aus Ostpreußen eintrafen.
Die Zustände in den Massenlagern sind Uecker hautnah gegenwärtig geblieben.
"Die Frauen schrien und wimmerten. Von einem Arzt wurde ich angeleitet, mit einem Handkantenschlag den Unterkiefer von Frauen wieder einzurenken, wenn sie es selbst in ihrem Schreien nicht mehr konnten. Der Arzt hatte gesagt: Ich schaffe das nicht allein, du musst das lernen. Eine Frau zu schlagen…, sie konnten sich selbst nicht von diesem Zustand befreien",
beschreibt Üecker in der FAZ eine Situation, in der sich – für unsere Wahrnehmung – das Grauen unerhört verdichtet.
Nichts als Trümmer
Unter den "Stimmen der Zeit", die der Berliner TAGESSPIEGEL zum Jahrestag präsentiert, ist auch diejenige des Filmregisseurs Billy Wilder.
"Wir flogen über Berlin, und ich sah die Trümmerwüste. Es sah aus wie das Weltende. Trümmer, Trümmer, Trümmer. Berlin lag in Asche."
Derweil schreibt Michael Wolf in der Tageszeitung DIE WELT eine "Geschichte der Kranzniederlegung"…
Und zwar unter dem Titel "Heil dir, Sieger Kranz!" – wobei "Sieger" und "Kranz" zwei getrennte Substantive sind. Die Rede ist also von Kranz und Kranzniederlegung als Kriegsgewinnern.
Dabei paraphrasiert Wolf das Buch "Von Helden und Opfern" von Alexandra Kaiser.
"Das eigentliche Niederlegen des Kranzes, so Kaiser, stand vor der NS-Zeit gar nicht im Fokus des Rituals, es galt nur als ein Element unter vielen einer Gedenkveranstaltung. (…) Erst mit dem Nationalsozialismus und seinem Hang zu dramatisch inszenierten Auftritten wurde die Kranzniederlegung (…) zu dem performativen Akt, als den wir sie in der Erinnerungskultur noch heute kennen. Das klingt paradox, wenn nicht skandalös. Schließlich werden auch in Auschwitz Kränze niedergelegt."
Gleichwohl will WELT-Autor Wolf Kranzniederlegungen keineswegs madig machen.
"Als Symbol hat der Kranz über Jahrtausende zahlreiche Bedeutungen angenommen und wieder abgelegt, ohne dass er sich in seiner Grundform verändert hätte. Der Kranz ist rund. Er lässt sich nicht verbiegen." –
Jazz-Pianist Keith Jarrett
Ein geburtlicher Zufall oder ein höheres Schicksal wollte es, dass am Tag des Kriegsendes in Europa in Allentown, Pennsylvania, Keith Jarrett zur Welt kam.
Was Alex Rühle, der Autor der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, von dem begnadeten Jazz-Pianisten hält, erschließt sich bereits restlos aus der Überschrift:
"Oh, hören Sie, hören Sie!"
Ueli Bernays stellt in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG den Jubilar bei der Arbeit vor.
"Im Himmel die Götter, das sterbliche Publikum im Konzertsaal. Und zwischen beiden das Genie, der Pianist, Keith Jarrett. Wenn Jarrett spielt, krümmt und windet er sich am Flügel mit fiebrigem Engagement und unüberhörbarem Körpereinsatz – als unterwerfe er sich dem Instrument, das er doch eindrücklich beherrscht. Und als opfere er sein Selbst samt Selbstkontrolle in jener Trance, der wir seine musikalischen (…) Offenbarungen verdanken."
So NZZ-Autor Ueli Bernays unter dem strahlenden Titel "Offen für die Ewigkeit". –
Nach 70 Jahren Kriegsende und 70 Jahren Keith Jarrett können wir die Presseschau unmöglich mit einem banalen Thema beenden…
Ein Lob auf die Seele
Wohl aber mit dem Lob auf die "Seele" als Begriff und wunderlicher Entität, das der Psychiater Daniell Hell in der NZZ erteilt.
"(Insbesondere) steht die Seelenvorstellung für ein Freisein von allem, was den Menschen zu einer Sache oder zu einem Zweck macht. Sie widersetzt sich damit dem modernen Trend zur Vermessung des Lebens."
Bleibt uns nur, uns das Hirn über dem letzten Satz für heute zu zermartern. Aber, bitte schön, liebe Hörer, heucheln Sie ja kein Mitleid…
Das würde Ihnen die NZZ nämlich nicht abnehmen.
Sie titelt: "Niemand hat Mitleid mit einem Gehirn."
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