Aus den Feuilletons

Achtung, Fiktion!

04:18 Minuten
Szenenbild aus der 4. Staffel der Netflix-Serie "The Crown", bei dem Tobias Menzies als Prinz Philip und Olivia Colman als Queen Elisabeth II. in der königlichen Loge eines Theaters stehen.
Zu realitätsnah? Die Netflix-Serie "The Crown" soll als Fiktion gekennzeichnet werden. © imago images / Alex Bailey / Netflix / The Hollywood Archive / Cinema Publishers Collection
Von Hans von Trotha · 30.11.2020
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Der britische Kulturminister will, dass die Zuschauer von "The Crown" per Warnhinweis darauf hingewiesen werden, dass es sich um Fiktion handelt, berichtet die "SZ". Sonst könne man die Serie "als real fehlinterpretieren".
Feuilleton ist ja vor allem Sprache. Aber um die Worte selbst geht es gar nicht so oft. Aktuell dafür geballt. Und das liegt nicht einmal am frisch gekürten "Wort des Jahres". Zudem ist mit der WELT-Überschrift "Ödes Jahr, ödes Wort" alles gesagt.
Matthias Heine erklärt das zu Ende gehende Jahr zum "monothematischsten der Nachkriegszeit", und da war es, so Heine, "naturgemäß absolut unmöglich", dem Wort Corona-Pandemie zu entkommen.

Stressfrakturen bei Joe Biden

Die taz widmet eine "Wortkunde" Joe Biden, beziehungsweise den Blessuren, die der sich beim Spielen mit seinen Hunden zuzog: "Stressfrakturen".
"Eine Verletzung, die zum Zeitgeist passt", findet die taz, denn sie verlangt Entschleunigung. "Stressfraktur", erläutert Alina Schwermer, ist eine Ermüdungserscheinung. Und - da beruft sich Schwermer auf ein Medium, das in der Kulturpresseschau nicht allzu oft zitiert wird: die Apotheken Umschau - "heißt vor allem: zu viel. Eine regelmäßige Fehlbelastung oder Überlastung, die im Knochen kleine Risse verursacht."
"Vielleicht", mutmaßt Schwermer, "ist Joe Biden im Wahlkampf ein paarmal zu häufig dynamisch zur Bühne gesprintet."
Skifahren ist auch gefährlich. Fällt dieses Jahr ja vielerorts aus. Das Tollste hat sich der französische Innenminister ausgedacht: Skigebiete auf, Skilifte zu.
Für die, die sich das antun wollen, hat die SÜDDEUTSCHE schon mal eine Art Trockenübung parat: einen Bildband, der die Hotels in den französischen Skigebieten im Sommer zeigt. Axel Rühle stellt fest, "dass man beim Anblick dieser Bilder wieder weiß, warum das Anthropozän Anthropozän heißt – so viel Beton, wie hier jeweils verbaut wurde, wird man noch in Hunderttausenden von Jahren Spuren davon finden."
Auch im Zentrum von Rühles Text seht ein Wort: der "Findling": "Findlinge sind einzelne, sehr große Steine, die während der Eiszeit von Gletschern mitgeführt werden. Irgendwann wird es wärmer, das Eis verschwindet, und der Stein steht allein und fremd in einer Gegend rum, in die er eigentlich gar nicht gehört."
Das Wort, das allerdings am lautesten in diesem Text nachhallt, stammt von dem österreichischen Fotografen Lois Hechenblaikner und soll die heute gängige Freizeit-Architektur beschreiben: Das "verlogenste Kalkül zur zweckrationalen Bewirtschaftung des Gastes" nennt Hechenblaikner "Rustikal-Karzinom".

Rettungsdienst für Worte

Die FAZ bläst gar zum "Wortschutz". "Als Schriftsteller", meint die Lyrikerin und Essayistin Olga Martynova, "ist man sowieso Rettungsdienst".
Martynova betrachtet die Sprach-Frage ökologisch – zum Beispiel unter dem Aspekt des Artenreichtums: "Wörter verschwinden mit den Gegen- oder Umständen", schreibt sie. "'Zwirnstern' steht nicht mehr im Duden, nicht einmal 'Zwirnspule', Letztere ist immerhin bei Kafka aufgehoben. Manches Wort wird von Ideologien vereinnahmt, wie 'Abendland'."
Für die FAZ hat Olga Martynova als Rettungsaktion Kolleginnen und Kollegen gebeten, "eine Liebeserklärung an ein oder zwei Wörter nach Wahl zu schreiben". Während sie selbst sich für "Tunte, Zigeuner und Jude" entschieden hat – in der Begründung heißt es: "Würde der Wörter und Menschenwürde hängen eng zusammen" - rettet Nora Gomringer "Hexe", "Trulla" und "schlampig", Jackie Thomae den "Einwanderer" und Buchpreis-Gewinnerin Anne Weber "Held" und "Vaterland".
"Nun ist es natürlich so", schreibt Anne Weber, "dass es das Wort 'Held' gar nicht gibt, ebenso wenig wie irgendein anderes Wort, sondern nur die unzähligen Bedeutungsnuancen, die es je nach Zeit, Zusammenhang und Sprecher oder Schreiber annehmen kann. Ist es in seiner weiblichen Form nicht eigentlich ganz erträglich?", fragt die Autorin des Romans "Heldinnenepos".

Warnhinweis für die Politik

Oder die Queen. Für die gilt, Webers Beobachtung abgewandelt, dass es sie gar nicht gibt, "sondern nur die unzähligen Bedeutungsnuancen", die ihr die Leute so angedeihen lassen, wenn sie sie im Fernsehen sehen.
Bis jetzt. Denn jetzt gibt es die neue Staffel der Netflix-Serie "The Crown". Wie die SÜDDEUTSCHE meldet, fordert der britische Kulturminister Oliver Dowden, "die Serie mit einem Warnhinweis zu versehen, weil Zuschauer sie für real halten könnten."
Man ist bisweilen versucht, der Politik dieser Tage den Warnhinweis zukommen zu lassen, dass so mancher schnell herausposaunte Vorschlag unter die Kategorie einer womöglich coronabedingten geistigen Ermüdung, also einer psychischen Stressfraktur zu rechnen ist. Eine entsprechende WarnApp wäre zu begrüßen.
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