Aus den Feuilletons

"A bisserl was geht immer"

Die Schauspieler Senta Berger (l-r), Veronica Ferres, Helmut Fischer und Michaela May freuen sich am 18.11.1994 mit Helmut Dietl (M) über die Medaille "München leuchtet" in Gold, die dem Regisseur vom Oberbürgermeister der Stadt verliehen wurde.
© picture alliance / dpa / Ursula Düren
Von Arno Orzessek · 04.04.2015
Vom Humor, dem Selbstquälerischen und dem Zauber des Autorenfilmers Helmut Dietl war in den Nachrufen in den Feuilletons der "Tageszeitung", "Berliner Zeitung" und der "FAZ" die Rede. Darüber hinaus ging es um Ungerechtigkeiten wie hermetische Klassensysteme oder schwierige Rollenmuster.
"Willkommen in der Ständegesellschaft 2.0",
begrüßte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG am Gründonnerstag ihre Feuilleton-Leser mit Sarkasmus und prangerte an, dass in der Bundesrepublik "ein hermetisches Klassensystem" herrsche.
"Eine der zentralen Ungerechtigkeiten in diesem Land lässt sich in drei Zahlen zusammenfassen: 100 – 77 – 23. Von 100 Akademikerkindern beginnen 77 ein Hochschulstudium, in Nicht-Akademiker-Haushalten schaffen es nur 23 Kinder an die Universität."
SZ-Autor Alex Rühle stützte seine Kritik auf das Buch "Du bleibst, was du bist" von Marco Maurer, Sohn eines Kaminkehrers und einer Friseurin.
"Maurer macht sichtbar, warum Lebenschancen heute wieder viel mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängen [als noch in den 80er Jahren]: Unbezahlte Praktika sind ein unsichtbarer Selektionsmechanismus, man muss sie sich nämlich leisten können. Und eine Studie […] belegt, dass Studierende aus einfachen Verhältnissen heute kaum eine Chance haben, Karriere an der Uni zu machen: Da man anfangs nur schlecht bezahlte Zeitverträge im Mittelbau bekommt, braucht es jahrelange ideelle und finanzielle Unterstützung durch die Familie."
Großen Neuigkeitswert hatten diese Erkenntnisse nicht – aber genau das macht die Klassen-Trennung natürlich umso verwerflicher.
Ebenfalls in der Sache nicht neu und trotzdem bedenklich: die Kapitulationserklärung von Marc Brost und Heinrich Wefing.
Unter dem Titel "Wenn du mal ehrlich bist" bemerkten die Autoren der Wochenzeitung DIE ZEIT:
"Es wird ja häufig, und zu Recht, beklagt, dass es kaum funktionierende Rollenvorbilder für Frauen gibt, die versuchen wollen, Beruf, Kinder und Partnerschaft halbwegs erfolgreich miteinander zu verbinden. Oder wenigstens, dabei nicht unterzugehen. Dasselbe gilt mittlerweile [aber] auch für Männer. Wo wäre der Mann, an dem wir uns orientieren könnten? Ein Typ, der gut in seinem Job ist, sich zärtlich um seine Kinder kümmert und seine Liebste mit Aufmerksamkeit verwöhnt, ohne darüber selbst zu kurz zu kommen? Wo ist dieser fabelhafte Typ?"…
grübelten Brost und Wefing, deren vollständige Klage unter dem Titel "Geht alles gar nicht" als Buch erschienen ist….
Kampfschrift einer jungen Feministin
Das in den Buchhandlungen womöglich neben "Unsagbare Dinge" liegt, der Kampfschrift der britischen Feministin Laurie Penny.
Laut SZ-Rezensentin Susan Vahabzadeh beklagt Penny, dass Frauen im Kapitalismus per se wenig Chancen auf Macht hätten – und weiter:
"Auch die meisten jungen Männer sind in dieser Gesellschaft chancenlos, sie gingen aber, findet Penny, anders damit um, weil man sie erzieht, als wären sie privilegiert; und den Frust ließen sie dann an den letzten aus, über die sie Macht haben – Frauen, Schwulen […]. Es werde uns, findet Penny, eine ‚Männlichkeit in der Krise‘ verkauft, obwohl es doch der Kapitalismus ist, der in der Krise steckt." -
Wie Sie spüren, liebe Hörer, verbreiteten viele Feuilleton-Artikel schlechte Laune…
Die wir nun anheben möchten, in dem wir zu den Nachrufen auf den Regisseur Helmut Dietl kommen.
Der Schöpfer von "Kir Royal", "Schtonk" und "Rossini" ist zwar leider tot; er war auch selbst kein reinrassiger Gute-Laune-Bär; und er hat ebenfalls ein desavouierendes Bild von dieser Gesellschaft und deren Münchener Nische gezeichnet – weshalb ihn die ZEIT als "Meister der Enttarnung" charakterisierte.
Aber! – Oft hat’s Spaß gemacht, ihm dabei zuzusehen.
Das fand auch Barbara Schweizerhof, die in der TAGESZEITUNG erklärte:
"Der Dietl-Humor [ist] nur schwer auf einen Nenner zu bringen. […] [Dietls] Typen waren zugleich mehr und weniger als Männerklischees, eigenartiger, eckiger, immer mit Erdung. Wenn Mario Adorf […] die Figur einer Frau damit anpries, dass man für sie fünf Arme bräuchte, und Heiner Lauterbach in gewohnter Ätzigkeit ergänzte '… und drei Schwänze…', dann hatte das auch etwas Selbstentblößendes. Und das machte aus den Dietl-Zoten oft – nicht immer – etwas Lebenswahres, etwas, in dem die ganz normale männlich-menschliche Kläglichkeit und der seltenere individuelle Großmut zur Geltung kamen. Und man verzieh den Figuren sogar, dass es sich bei der angepriesenen Traumfrau um Veronika Ferres handelte",
witzelte Schweizerhof in Erinnerung an "Rossini".
Helmut Dietl: Mehr als Münchener Folklore
"A bisserl was geht immer" titelte die BERLINER ZEITUNG einen Standard-Spruch aus "Monaco Franze" und hielt fest:
"Dietl verstand sich als Autorenfilmer, seine Stoffe waren und sind ohne seine Persönlichkeit nicht zu denken. Diese Arbeitsweise hatte immer auch etwas Selbstquälerisches, [brachte] 'eine Reihe von Enttäuschungen', wie Dietl eindrücklich beschrieb: 'Man ist dauernd sein eigener Feind: Der Autor ist der Feind des Regisseurs, der Regisseur ist der Feind des Produzenten.' So sei er sozusagen, 'von Feinden umzingelt, von Anfang an'",
betonte Klaudia Wick in der BERLINER ZEITUNG.
Die höchsten Töne schlug Claudius Seidl in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG an:
"Wer das, was Dietls Zauber ausmacht, für Münchener Folklore hält, der kann auch Sigmund Freud zur Wiener Folklore zählen und Balzac zum Stadtschreiber von Paris machen."
Ein weiteres Mal fiel auf: Claudius Seidl, der im Berliner Exil leben muss, leuchtet praktisch von innen, sobald er über München spricht – wovon auch die Überschrift seines Nachrufs Zeugnis gab: "München ist die Möglichkeitsform der Welt."
Oft befassten sich die Feuilletons in der Kar-Woche mit dem Absturz der Germanwings-Maschine.
Unter dem Titel "Der ruhige Atem, fassungslos" veröffentlichte Heidrun Friese, Professorin für interkulturelle Kommunikation, im Berliner TAGESSPIEGEL eine Textcollage, in der es hieß:
"Die glocken, sie riefen heute, tafel in vier sprachen in Erinnerung an die Opfer, einige abgereist, plan gedenkort, von dem aus man die unglücksstelle sehen kann, bergungstrupps am rand ihrer kräfte, damit zurück zu jan hofer."
Gleichwohl wünschen wir Ihnen, liebe Hörer, frohe Ostern…
Und mit einer Überschrift der SZ sogar das Undenkbare – nämlich: "Ewige Flitterwochen mit der Zukunft."
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