Aus dem Nachlass

20.04.2010
Erstmals wird Ingeborg Bachmanns "Kriegstagebuch" - vom Spätsommer 1944 bis Juni 1945 - vollständig aus dem Nachlass veröffentlicht. Der Band enthält auch sämtliche erhaltene Briefe von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann.
Daraus wurde ein Buch gemacht? Der äußere Anschein stimmt skeptisch. Es handelt sich um sechs handbeschriebene DINA-4-Blätter der 18-jährigen Ingeborg Bachmann. Sie werden ergänzt durch elf Briefe des 26-jährigen britischen Besatzungsoldaten Jack Hamesh.

Der Herausgeber hat zudem aus den Tagebuchtexten Bachmanns einschlägige Passagen bereits andernorts veröffentlicht. Dennoch: Durch die Verbindung mit den Briefen Hameshs entsteht ein zeitgeschichtlich bedeutsames Dokument.

Schon früh waren die Nationalsozialisten in Kärnten auffällig stark. Die Mischbevölkerung im Dreiländereck zu Slowenien und Italien führte zu einem ideologisch hochgerüsteten Deutschtümlertum. Vor diesem Hintergrund wirkt der letzte Satz Bachmanns, den sie während des Kriegs ins Tagebuch schreibt, besonders beredt: "Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht mehr reden."

Die 18-jährige Tagebuchschreiberin zieht einer Puppe wieder "das rosa Rüschenkleid" an und legt sie neben sich ins Bett. Der Wahrheit und der Naivität der kindlichen Haltung, die das Tagebuch hier einnimmt, ist gar nicht so leicht auf die Spur zu kommen. Hier deuten sich Überlebensstrategien an, die später immer raffinierter werden.

Nach der Kapitulation muss sich Bachmann bei einer britischen Stelle melden. Dort befragt sie der "eher hässliche" Jack Hamesh. Bald darauf interessiert er sich näher für sie. Er ist Jude, stammt aus Wien und ist 1938, als Achtzehnjähriger, illegal mit einem Kindertransport von Wien nach England gebracht worden.

Was das genau heißt, scheint Ingeborg Bachmann nicht richtig wahrzunehmen. Doch Hameshs Judentum verschmilzt mit der Möglichkeit, mit ihm über Literatur zu sprechen. Die begeisterten Ausrufe im Tagebuch betreffen nicht Jack Hamesh als Person, sondern den Frieden und die Möglichkeit, zu studieren: "Das ist der schönste Sommer meines Lebens."

Hamesh beschließt am Ende des Krieges, nach Palästina auszuwandern. Aber die Wiederbegegnung mit seiner prekären österreichischen "Heimat" versetzt ihm einen Schock, seine Entwurzelung wie seine Einsamkeit werden ihm quälend bewusst. Als Hamesh in Tel Aviv ankommt, führt dies zu einer großen Lebenskrise. Das Bild Ingeborg Bachmanns, wie er sie zum letzten Mal sah, wird immer bedrängender: er wünscht sich jetzt noch intensiver einen Satz von ihr, der von einem Wiedersehen gesprochen hätte. Seine Sätze künden von einem tragischen Schicksal.

Doch sie können Bachmann von vornherein nicht erreichen. Ihr geht es ums "Freisein". Man kann hier wirklich von den Kindern der Täter und der Opfer sprechen, die die Geschichte völlig unterschiedlich weiter in sich tragen. Erst sehr viel später wird Ingeborg Bachmann literarisch umsetzen, was die frühen Erlebnisse in ihr ausgelöst haben.

Besprochen von Helmut Böttiger

Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch
Mit Briefen von Jack Hamesh an Ingeborg Bachmann. Hg. und mit einem Nachwort von Hans Höller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 107 Seiten, 15,80 Euro