Aus Angst vor Russland

Litauen rüstet wieder auf

Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite
Versteht keinen Spaß, wenn es um Russland geht: Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaite. © afp / Kenzo Tribouillard
Von Michael Frantzen · 22.09.2015
Obwohl die Rüstungsausgaben im vergangenen Jahr weltweit gesunken sind, hat Litauen seinen Wehretat deutlich erhöht. Die Regierung möchte sich gegen den vermeintlichen Feind aus dem Osten wappnen: Russlands Präsidenten Wladimir Putin.
Der Spätsommer – er hat noch einmal ein letztes Intermezzo eingelegt – auf dem Marktplatz von Klaipeda, der litauischen Hafenstadt. Strahlender Sonnenschein, von der nahen Ostsee weht eine laue Brise. Vytautas Milius hält kurz inne – ehe er die Folklore-Band, die für die Touristen Musik macht, links liegen lässt. Der Zwei-Meter-Mann mit den Raspel-kurzen Haaren hat es eilig. In gut einer Stunde muss er wieder zurück sein in seiner Kaserne. Seit ein paar Wochen leistet der 24-Jährige beim "Dragoner Bataillon" Wehrdienst – freiwillig.
"Ich habe mich aus patriotischen Gründen gemeldet. Ich sehe es als meine Pflicht an, mein Vaterland zu verteidigen. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Es gibt ja junge Leute, die keine Lust haben auf den gerade wieder eingeführten Wehrdienst. Ich verstehe das nicht: Es sind doch nur neun Monate. Im Idealfall werde ich beim Militär ein besserer Mensch. Wenn nicht, lerne ich zumindest ein paar nützliche Fähigkeiten. Ich hoffe, die Armee hilft mir in meinem Leben vorankommen."
Schnellen Schrittes läuft Vytautas über das Kopfsteinpflaster, raus aus dem Gewusel des alten Hafenviertels mit seinen windschiefen Fischerhäusern, Richtung Mantol-Boulevard, der Flaniermeile der 160.000-Einwohner-zählenden Stadt an der Kurischen Nehrung. Schnell noch einen Kaffee trinken im Coffee Inn.
Früher war Vytautas hier häufiger – als Student der Medienwissenschaft. Die Uni ist nicht weit entfernt. Der stille Litauer verzieht unmerklich das Gesicht. Eigentlich hatte er gehofft, mit seinem Bachelor eine gutbezahlte Stelle zu finden. Doch das hat nicht geklappt. Nur Gelegenheitsjobs, zuletzt am Hafen, bei einem Sicherheitsdienst. Eine ganz schöne Knochenarbeit, erzählt Vytautas während er an seinem Cappuccino nippt. Dann lieber die Armee, auch wenn Sharunas, sein älterer Bruder, es anfangs nicht fassen konnte.
"Er hat mich gefragt, ob ich jetzt total bescheuert bin? Warum tust du dir das an? Bei der Armee sind doch nur Dumpfbacken. Sharunas ist acht Jahre älter als ich. Als er in meinem Alter war, gab es schon einmal die Wehrpflicht. Er hat sich damals davor gedrückt. Ein paar seiner Uni-Freunde aber waren beim Militär. Und die müssen ihm wohl erzählt haben, dass es ziemlich Horror war; wegen der Umgangsformen; dem Drill. Sollen sie nur reden. Mir macht das nichts aus. Sharunas hat sich inzwischen auch beruhigt. Er versteht jetzt, warum es für mich in vielerlei Hinsicht genau der richtige Schritt war."
Verbale Aufrüstungsspirale gegen Russland
Vytautas springt auf. Unpünktlichkeit – das haben sie gar nicht gerne im "Dragoner Bataillon". In 20 Minuten beginnt sein Dienst; keine 50 Kilometer entfernt von dem Land, das ihm und vielen anderen Litauern immer mehr Sorgen bereitet: Russland.
"Sagen wir mal so: Das Regime von Russlands Präsident Putin bedient sich schmutziger Tricks – nicht nur in der Ukraine, sondern auch vor unserer Haustür. Wir müssen gewappnet sein. Jeder einzelne. Deshalb bin ich Soldat geworden. Es ist mein bescheidener Beitrag in diesem geopolitischen Spiel."
"I have no gun in my pocket.”
Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Letzteres tut Vytautas Grubliauskas oft und gerne. Natürlich hat der Bürgermeister von Klaipeda keine Pistole in der Hosentasche. Trotz der aktuellen Gefahrenlage. War ein Witz. Draußen schippern die Ausflugsboote behäbig die Dange entlang, drinnen, im schneeweißen, neoklassizistischen Rathaus, breitet der joviale Stadtvater seine Sicht der Dinge aus. In Punkto Russland. Grubliauskas macht bei der verbalen Aufrüstungsspirale nicht mit. Der Mann, der in einem früheren Leben Jazzmusiker war, geht zum Regal mit den Souvenirs und tippt auf einen Zierteller: Ein Geschenk aus Kaliningrad, der russischen Partnergemeinde Klaipedas.
"Ich hoffe doch sehr, dass der Bürgermeister von Kaliningrad bei seinem nächsten Besuch auch keine Pistole dabei hat. Ganz im Ernst: Es ist wichtig, dass wir uns weiter treffen, miteinander reden. Nicht nur der Bürgermeister und ich, sondern auch die normalen Leute beider Städte. Ich nenne das immer Bürger-Diplomatie. Einerseits. Andererseits leben wir nun einmal in der Welt, in der wir leben. Natürlich kann ich als litauischer Politiker, noch dazu aus Klaipeda, nicht die Augen davor verschließen, dass die russische Armee um die Ecke von uns in Kaliningrad Riesen-Manöver veranstaltet. Wie letzten Dezember. Und ja, ich weiß: Natürlich gab und gibt es Grenzvorfälle. Uns Litauern bleibt gar nichts anderes übrig, als darauf zu reagieren. Deshalb war es richtig den Verteidigungshaushalt zu erhöhen. Doch das bedeutet nicht, gleich alle Gesprächskanäle zu normalen Russen zu kappen."
Zahl russischer Touristen sinkt
Mögen die Gesprächskanäle auf offizieller Ebene, zwischen beiden Bürgermeistern, auch noch offen sein: Im Alltag gibt es immer weniger Kontakt zwischen Litauern und Russen. Um die Hälfte ist die Zahl russischer Touristen gesunken, die letztes Jahr Klaipeda besucht haben. Eine Folge der Rubelkrise und der Sanktionen, mit denen sich der Westen und Russland gegenseitig das Leben schwer machen. Schlecht für die Bürgerdiplomatie, noch schlechter für die Einkaufszentren und Hotels vor Ort, denen die spendierfreudigen russischen Kunden fehlen. Zumindest steuern jetzt ein paar mehr US-Amerikaner die Stadt an. Touristen, vor allem aber US-Soldaten, die in Litauen stationiert sind oder an Nato-Manövern teilnehmen. Ihr Empfang ist gebührend, vorausgesetzt Klaipedas oberster Stadtvater ist zugegen und in der richtigen Stimmung – für eine Kostprobe seines Könnens als Jazzmusiker.
"Das letzte Mal habe ich am Sonntag gesungen. Meinen Lieblingssong: What a wonderful world. Zu Ehren von John Boemer, dem Sprecher des US-Abgeordnetenhauses. Er war gerade bei uns zu Besuch. Ich mache das immer spontan. Ich habe auch schon mehrere Male in Kaliningrad gesungen. Die Russen fanden es immer toll. Es ist mein spezielles Geschenk für sie – aus Klaipeda."
Ein jazzender Politiker, der für seine russischen Gastgeber Louis Armstrong zum Besten gibt: Luftlinie gut 300 Kilometer südöstlich von Klaipeda entfernt, verzieht Juozas Olekas in Vilnius, der litauischen Hauptstadt, das Gesicht: Ein bizarrer Gedanke. Litauens Verteidigungsminister mag es seriöser. Seit knapp drei Jahren hat der Mann mit der Fliege im Ministerium das Sagen. Der wuchtige Bau würde sich gut in einem Mittelalter-Film machen. Original-Ritterkostüme gehen hier auf Tuchfühlung mit einem Historien-Schinken, der an den glorreichen Sieg der litauischen Armee gegen den Deutschen Orden 1261 erinnert. Heutzutage kommt der Gegner nicht mehr aus dem Westen, sondern dem Osten.
"Wir Litauer müssen Russland in der jetzigen Situation zeigen: Wir sind gewappnet. Wir sind bereit. Schauen sie sich nur an, was 2008 passiert ist, als russische Truppen in Georgien einmarschiert sind. Der Westen hat sich kurz aufgeregt – um gleich wieder zu business as usual zurückzukehren. Da hat sich Russlands Präsident Putin gedacht: Prima, das merke ich mir. Und was passiert?! Er besetzt die Krim und unterstützt die Separatisten in der Ost-Ukraine. Nein, wir Litauer haben gar keine andere Wahl als aufzurüsten. Es ist die einzige Sprache, die Putin versteht. Deshalb stocken wir unsere Armee auf; deshalb auch diesen Sommer die Nato-Manöver auf unserem Territorium. Das alles dient der Abschreckung."
Der litauische Verteidigungsminister Juozas Olekas, aufgenommen 2013
Der litauische Verteidigungsminister Juozas Olekas© picture alliance / dpa / Nicolas Bouvy
Falken wie Olekas – in der Hauptstadt des Drei-Millionen-Landes geben sie den Ton an. Da verkündet die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite, Russland sei "ein Terror-Staat", konstatiert ihr Vorgänger Vytautas Landsbergis, so etwas wie der Helmut Schmidt Litauens: "In Europa hat eine Ära der Putinschen Kriege begonnen." Die litauische Politiker-Kaste hat es nicht bei den Worten belassen – allen voran Verteidigungsminister Olekas. Der Sozialdemokrat hat letztes Jahr den Wehretat um die Hälfte erhöht – Rekord unter allen Nato-Staaten. Mehr moderne Waffen, gerne Panzerhaubitzen aus Deutschland; mehr Nato-Manöver; überhaupt: Mehr Nato-Präsenz. Olekas lässt in der Unterwelt seines Ministeriums, im mittelalterlichen Konferenzsaal, keinen Zweifel daran, wohin die Reise gehen soll. Der gelernte Arzt ist gut gewappnet. Hier, meint er – und wedelt mit einem Blatt Papier: Die Liste der Zwischenfälle im Luftraum Litauens verursacht durch russische Flieger. Letztes Jahr waren es 150, drei Mal so viel wie 2013. Dass der 60-Jährige so allergisch auf die russischen Provokationen reagiert, hat auch mit der Geschichte Litauens zu tun; seiner Geschichte.
"Meine Mutter war 13, mein Vater 16, als sie von den Sowjets nach Sibirien deportiert wurden. So wie hunderttausende Litauer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie wurden verbannt, weil ihre Eltern litauische Patrioten waren. Das passte den Sowjets nicht in den Kram. Sie verbrachten zehn Jahre in der sibirischen Einöde, bevor sie zurück in die Heimat konnten. Deshalb bin ich auch in Sibirien geboren. Es gibt in Litauen kaum eine Familie, die nicht von den Deportationen und der sowjetischen Zwangsherrschaft von 1945 bis 1991 betroffen war. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum wir Litauer die Vorkommnisse in der Ukraine anders interpretieren als Leute im Westen. Wenn sie mich fragen: Was Putin macht, ist nicht viel anders, als was die Sowjets gemacht haben. Sein Denken ist immer noch sowjetisch geprägt."
Klopapier mit dem Konterfei Wladimir Putins
Russland – ein Terrorstaat – so sieht das auch Linas Kojala. Der alerte 25-Jährige arbeitet im "Osteuropäischen Studienzentrum" - in einem der Villenvororte von Vilnius, unweit des Fernsehturms. Ein geschichtsträchtiges Bauwerk, der Turm. Am sogenannten Blutsonntag im Januar 1991 rollten hier sowjetische Panzer auf – und walzten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Mehrere Zivilisten einer Menschenkette starben. Linas war damals kein Jahr alt, die Geschichte der "Märtyrer" aber kennt er. "Natürlich", schiebt der Politikwissenschaftler hinterher – ehe er sich in seinem Büro hinsetzt, das von Sinn für Ordnung kündet – und skurrilem Humor. Im Regal liegt eine Rolle Klopapier mit dem Konterfei Wladimir Putins. Ein Geschenk ukrainischer Freunde. Besuch aus Russland war schon länger nicht mehr da. Linas zuckt die Schultern. So ist das nun einmal – im neuen Kalten Krieg. Die Fronten sind klar, die Marschrichtung eindeutig: Litauen muss aufrüsten – allein schon wegen der Versäumnisse der letzten Jahre.
"Es war schon eine komische Situation: Wir haben unsere Nato-Partner gebetsmühlenartig vor den Gefahren für die baltischen Staaten gewarnt, unser Verteidigungshaushalt aber wurde kleiner. Und kleiner und kleiner. Das hatte natürlich auch mit der schweren Wirtschaftskrise zu tun, die Litauen seit 2008 durchmachte. Für viel Geld neue Panzer kaufen, während unseren Alten die Rente gekürzt wird?! Das ließ sich nur schwer vermitteln. Die Vorkommnisse in der Ukraine haben das geändert, abgesehen davon geht es uns wirtschaftlich auch wieder besser. Die Ukraine hat uns vor Augen geführt, wie verwundbar wir sind. Die Mehrheit der Bevölkerung findet jetzt: Wir müssen bereit sein, uns selbst zu verteidigen."
Aufregung um neue Wehrpflicht hat sich gelegt
Kritische Stimmen zum neuen Wettrüsten, der wiedereingeführten Wehrpflicht – sie sind selten zu hören in Litauen. Allenfalls ein paar Blogger machen sich darüber lustig, dass potentielle Rekruten bei der Musterung in einem Psychotest beantworten müssen, ob sie sich schon einmal überlegt haben, Florist zu werden. Das zielt auf die sexuelle Orientierung ab. Wer Ja ankreuzt, kann in der Logik litauischer Generäle nur schwul sein –und hat in der Armee nichts verloren. Andere monieren, dass mit Juozas Olekas ausgerechnet der Minister die Wehrpflicht wieder eingeführt hat, der sie 2008, in seiner ersten Amtszeit, abschaffte.
"Unsere Politiker haben Fehler gemacht. Allen voran Verteidigungsminister Olekas. Sie haben im Mai von einem Tag auf den anderen gesagt: So! Wir führen die Wehrpflicht wieder ein! Ohne zu sagen wie. Für ein, zwei Wochen kursierten im Netz die wildesten Gerüchte: Wenn ich auf der ominösen Wehrpflichtigen-Liste stehe: Heißt das dann, dass ich automatisch zur Armee muss? Was ist mit den Söhnen hochrangiger Väter und Mütter? Können die sich drücken? Es herrschte keine Klarheit. Das war ein Fehler. Unsere Politiker hätten viel besser vorbereitet sein müssen."
Inzwischen hat sich die Aufregung wieder gelegt. Bis Ende des Jahres werden voraussichtlich keine weiteren jungen Männer zum Wehrdienst eingezogen – dank Freiwilligen wie Vytautas, dem Sinnsuchenden aus Klaipeda. Mehr als 2200 haben sich schon gemeldet, wenn es in dem Tempo weiter gehe – heißt es aus dem Verteidigungsministerium – werde man bis Ende des Jahres wohl die anvisierte Zahl von 3000 neuen Rekruten erreichen. Was 2016 wird, bleibt offen. Gut möglich, dass Linas, der junge Politikwissenschaftler, auch noch zur Waffe greifen muss – fürs Vaterland.
"Längerfristig könnte das durchaus passieren. Erst einmal mache ich mir aber keine Sorgen. Ich fange bald mit meiner Doktorarbeit an. Solange du an der Uni bist, musst du nicht zur Armee. Aber wenn es hart auf hart käme, würde ich mich nicht drücken. Es sind ja nur neun Monate."
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