Aufwendiges Agitprop-Stück

Von Frieder Reininghaus · 02.08.2009
In Salzburg kam das politische Oratorium "Al gran sole carico d’amore" des italienischen Komponisten Luigi Nono zur Aufführung. Darin finden sich Textauszüge von Karl Marx bis Fidel Castro. Ingo Metzmacher stand am Dirigentenpult.
34 Jahre nach der Uraufführung an der Scala in Mailand, mehr als drei Jahrzehnte nach der deutschen Erstaufführung in Frankfurt/M. (Michael Gielen dirigierte, Jürgen Flimm inszenierte) sowie nach weiteren Inszenierungen in Stuttgart (Martin Kušej), Hamburg (Travis Preston) und Hannover (Peter Konwitschny) wurde mit "Al gran sole carico d’amore" das aufwendigste Agitprop-Stück der europäischen Kulturgeschichte ins Programm der Salzburger Festspiele gerückt.

Das zweiteilige szenische Oratorium stützt sich auf Text-Partikel von Karl Marx, Lenin, Bertolt Brecht, Ernesto "Che" Guevara, Fidel Castro sowie kommunistische Kampflieder, Gedichtzeilen von Arthur Rimbaud, Tagebuchaufzeichnungen der Pariser Kommunardin Luise Michel und der kubanischen Geheimagentin Tanja Bunke sowie andere Zeugnisse zur Geschichte der Klassenkämpfe und der gescheiterten Revolutionen in Europa. Es geht um den untrennbaren Zusammenhang von Liebe unter Bedingungen des Kampfes, also auch um den von Erotik und Opfertod. Das Stück ist den "roten Märtyrern" gewidmet und vollzieht sich in hohem Maß aus dem Blickwinkel von Frauen. Damit bezieht sich seine Reaktivierung nicht nur (ex negativo) allgemein auf das Festspiel-Motto "Das Spiel der Mächtigen", sondern direkt und konkret auch auf den Märtyrer-Plot von Händels "Theodora", die zur Eröffnung der Festspiele gegeben wurde.

"Al gran sole" sollte durchaus paradigmatisch verstanden werden: als Entwurf einer politisierten Moderne (weniger als Agitationsmuster – denn dafür taugte die Intonation der Stimmen und Instrumente auch 1975 nicht sonderlich). Zwar zeigte sich Luigi Nono (1924–1990) allemal indigniert, wenn die Botschaften seiner Werke der 60er und 70er Jahre ignoriert wurden und man sich für ihn lediglich als innovativen Tonsetzer interessierte (insbesondere, wenn einer Distanz zu seiner Hauptnebentätigkeit als Agitator für die – revisionistische – Kommunistische Partei Italiens erkennen ließ).

Doch "Al gran sole", komponiert im unmittelbaren Nachhall der in ganz Europa ausbrechenden Revolten von 1968 (und den damaligen Kombattanten Claudio Ab-bado und Maurizio Pollini gewidmet), kam ihm, als er sich in Spätbürgerlichkeit zurückzog, selbst wie ein "Elefant der Mittel" vor. Freilich erscheinen heute nicht nur die gelegentlich hart und dicht geballten musikalischen Gewaltmittel der Bläser und Percussionisten "elefantös", sondern mehr noch die Konsequenzlogik und Dogmatik mancher Textpassagen. Überhaupt die im Kern auf die Breschnew-Doktrin bezogene Weltsicht des Librettos.

Die lose gewobene Folge von Episoden wurde in der Felsenreitschule von Leo Warner und Sebastian Pircher mit einer elaborierten Live-Video-Produktion angereichert, die sich in eine Inszenierung der britischen Regisseurin Katie Mitchell fügte: Was aus den an Museen erinnernden Glasvitrinen entnommen wird, was sich im Kleinen auf einem Steinhaufen oder einem Rasenstück ereignet, wie fünf (mitunter allzu drastisch) pantomimende Frauen in fünf Kammern warten, trauern, trotzen, wie sie nachdenken, schreiben, sich ermannen – all das wird in Großaufnahmen unmittelbar auf eine riesige Projektionsfläche überm Chor geschickt. Der Screen ist gemustert wie eine Plakatwand, von der schon unendlich oft die Plakate auch wieder abgerissen wurden. Dadurch erscheinen die aktuellen Bilder wie von altmeisterlichen Händen geschaffen. Sie erinnern an niederländische Gemälde aus dem "Goldenen Zeitalter" oder aus der Ära des frühen französischen Pointillismus.

Die harten historischen Wirklichkeiten werden so in hohem Maß weichgespült. Ein dezidiert "weiblicher" Zugriff – Laubsägearbeit fürs ideologische Vermächtnis – hat Nonos Virilität kontrapunktiert und trägt nun dazu bei, dass selbst dieses sperrige Werk in Jürgen Flimms Salzburger Wohlfühlprogramm integriert werden kann. So unqualifiziert, ja: unbedarft (und dafür mit reaktionärem Ressentiment) Daniel Kehlmann in seiner Eröffnungsrede zu den diesjährigen Salzburger Festspielen über das "Regietheater" herzog: seine These bezüglich eines "Bündnisses zwischen Kitsch und Avantgarde" könnte auf Mitchells Produktion (die dezidiert nicht zum "Regietheater" zu rechnen wäre) zutreffen – und erst recht die Diagnose: "In einer Welt, in der niemand mehr Marx liest und kontroverse Diskussionen sich eigentlich nur noch um Sport drehen", seien bestimmte Formen des Theaters "zur letzten verbliebenen Schrumpfform linker Ideologie degeneriert" (man mag solche Schrumpfung begrüßen oder bedauern).

Faszinierend ist, wie Ingo Metzmacher dem "Schrumpfen" entgegenwirkt und den gewaltigen Apparat mit souveräner Ruhe dirigiert: die Wiener Philharmoniker und den Wiener Staatsopernchor. Das renommierte Orchester absolviert Luigi Nonos komplexe Partitur keineswegs wie eine Pflichtübung. Es sieht so aus, als wollten die Mitglieder des als konservativ geltenden Klangkörpers deutlich machen, dass sie gerade auch dieser Art Moderne ganz und gar gewachsen sind und ihr an dieser Stelle zum Durchbruch verhelfen wollen. Sie bringen sich mit ihrem Engagement in das historische des Komponisten ein und schaffen so eine Übertragungsleistung, die substantiell erscheint für den Erfolg der Produktion.

Der in bemerkenswerter Weise leistungsfähige Chor – angeführt von einem Dutzend Chor-Solisten – wurde von Luigi Nono durchgängig sehr differenziert zum Einsatz beordert. Metzmacher folgt dieser Intention strikt. Nur sehr gelegentlich ballen sich die Fäuste zur Stimmgewalt. Das Moment von Melancholie tritt in den Vordergrund: Die bösen alten Kämpfe sind vorbei; doch es gibt gute Gründe, sie in Erinnerung zu behalten. Die neuen müssen und werden anders aussehen (dies zu thematisieren hieße allerdings allzu viel von den Salzburger Festspielen verlangen).