Auftakt zu einer Tragödie

26.10.2006
György Dalos hat den Volksaufstand in Ungarn 1956 als 13-Jähriger erlebt. In seinem Buch "1956. Der Aufstand in Ungarn" blickt der in Berlin lebende Schriftsteller auf die Ereignisse vor 50 Jahren zurück. Er schildert das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven und skizziert die blutige Niederschlagung des Aufstands als den Auftakt zu einer Tragödie.
Am Spätnachmittag des 23. Oktober 1956 läuft der 13-jährige György durch Budapest, ein – wie er im Rückblick beschreibt – magerer, auf gutes Essen und französische Romane hungriger Junge aus bescheidenen sozialen Verhältnissen. Der 13-Jährige beobachtet, wie eine Mischung aus sozialem Protest und nationalem Aufbegehren binnen Stunden in einen gewalttätigen Aufstand mündet.

Fünf Jahrzehnte später erinnert sich der reife ungarische Schriftsteller György Dalos daran. In seinem Buch "1956. Der Aufstand in Ungarn", erschienen bei C.H. Beck, schildert Dalos aus mehreren Perspektiven, darunter der des Halbwüchsigen, den Sturz des Stalindenkmals, die ersten Schüsse vor dem Rundfunkgebäude, die ersten Toten sowie die Truppen der sowjetischen Armee. Der 23. Oktober 1956 erscheint bei ihm wie der Auftakt zu einer Tragödie, deren Stoff Shakespeare gereizt haben müsste: Nicht nur deshalb, weil die sowjetischen Machthaber sich zunächst zurückziehen, falsche Friedensangebote unterbreiten, das gesamte Repertoire der machtpolitischen Intrige durchspielen, um dann am 4. November 1956 durch einen weiteren Einmarsch dem ungarischen Freiheitstreiben ein gewaltsames und auf lange Sicht endgültiges Ende zu setzen.

Auch der Charakter der beiden großen Protagonisten auf ungarischer Bühne ruft den englischen Dramatiker in Erinnerung: Auf der einen Seite Imre Nagy, der wankelmütige Kommunist, der gleichsam wider Willen zum Volks- und Freiheitshelden avanciert und dafür von denen, die ihn einen Augenblick lang benutzen wollten, in ein anonymes Massengrab befördert wird. Auf der anderen Seite Janos Kádár, in den frühen fünfziger Jahren ein aufrechter Kommunist, der seine Ideale nicht verraten will und dafür von den Stalinisten ins Gefängnis geworfen wird - Kadar, der dann aber jenen Teufelspakt eingeht, der die Massenhinrichtung seiner früheren Verbündeten einschließt, bis sich Ungarn unter seiner Führung für mehrere Jahrzehnte zu einer kommunistischen Diktatur mit gewissen Toleranzen im geistigen und einigen bescheidenen Wohltaten im materiellen Leben entwickelt.

Der Schriftsteller György Dalos, 1943 in Budapest geboren, heute in Berlin ansässig, hat seine Sicht auf den Ungarnaufstand im Verlaufe von 50 Jahren, das räumt er freimütig ein, schon mehrmals revidiert: Mal war er angepasster Kommunist, mal zorniger Dissident, mal Beobachter aus größerer geopolitischer Distanz – weitab von Budapest. Sein Buch hat viele Ebenen. Es berücksichtigt die Widersprüche, die ein Volksaufstand gegen eine von sowjetischen Interessen geleitete "Volksmacht" wohl zwangsläufig aufweisen musste. Die ungarischen Verhältnisse stellt der Autor einfühlsam und zugleich distanziert vor. Er berücksichtigt die zeitgleichen, aber nicht unbedingt parallelen Entwicklungen in den anderen Ländern des Ostblocks ebenso wie die machtpolitischen Interessen des Westens während der Suez-Krise und wirft dabei auch noch einen Blick auf die Integration von hunderttausenden ungarischen Flüchtlingen in die österreichische und bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Der deutsche Text (eine Bearbeitung, keine Übersetzung) bereitet dem begnadeten Stilisten Dalos allerdings keine Ehre. Es klingelt mitunter so phrasenhaft wie in den parteioffiziellen Dokumenten, die der Autor kritisch und ironisch zitiert. Der Verlag hätte hier mehr Mühe aufwenden können. Dennoch bleibt "1956" von György Dalos ein ebenso aufrichtig wie differenziert anmutendes Buch.

Rezensiert von Martin Sander

György Dalos: 1956. Der Aufstand in Ungarn
C.H. Beck Verlag
248 Seiten, 19,40 Euro