Aufstieg und Fall der Solidarność

Gemeinsame Kämpfe, geplatzte Träume in Polen

29:35 Minuten
Streikführer Lech Wałęsa (2.v.l.) spricht 1980 zu den Arbeitern der Lenin-Werft in Danzig, links daneben Pfarrer Henryk Jankowski
Streikführer Lech Wałęsa vor der Belegschaft der Lenin-Werft in Danzig: Zehn Millionen Polinnen und Polen werden Mitglieder der Solidarność. © picture alliance / AP Photo / Reportagebild
Von Martin Sander · 02.09.2020
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Die Solidarność: Vor 40 Jahren gründeten polnische streikende Arbeiter ein Bündnis sehr unterschiedlicher Gruppen. Nach dem Sieg über den gemeinsamen Feind, den Kommunismus, gingen die Erben der Bewegung verschiedene Wege. Manche sind tief verfeindet.
"Endlich haben wir unabhängige, selbst verwaltete Gewerkschaften", sagt Lech Wałęsa. "Wir haben das Recht zu streiken. Und weitere Rechte werden wir bald durchsetzen!"
Danzig am 31. August 1980: Auf dem Gelände der Lenin-Werft verkündet der Elektriker Lech Wałęsa die Gründung der ersten nicht staatlichen Gewerkschaft. Das ist einzigartig im Ostblock. Nur knapp drei Wochen später wird die Gewerkschaft offiziell aus der Taufe gehoben: Solidarność, auf Deutsch Solidarität. Es ist eine Organisation für Arbeiter und Angestellte, aber auch eine Bürgerrechtsbewegung, die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit durchsetzen will.
Binnen Kurzem werden zehn Millionen Polinnen und Polen Mitglieder der Solidarność: Antikommunisten und Angehörige der kommunistischen Partei, Akademiker und Bauern. Sie alle wollen den Sozialismus reformieren. Ein Jahrzehnt später werden sie ihn abschaffen.

Ein Werftelektriker als Streikführer

Der Werftelektriker Lech Wałęsa hat bereits zehn Jahre vorher als Streikführer auf der Lenin-Werft gegen das Regime gekämpft. Aber er hat auf Granit gebissen. Anschließend hält er still, wird eine Zeit lang sogar als Informeller Mitarbeiter der Geheimpolizei geführt. Dann begehrt er wieder auf.
1976 feuert ihn die Werfleitung. Hat er doch die offiziellen staatlichen Gewerkschaften für ihre Untätigkeit kritisiert. Nachdem die Belegschaft der Lenin-Werft im August 1980 in den Streik getreten ist, gelangt er als Betriebsfremder unbemerkt auf das Gelände. Sogleich wird er zum Streikführer ausgerufen und triumphiert.
Streikende Arbeiter laufen mit geschwenkten Solidarność-Fahnen durch das Werktor der Lenin Werft in Danzig.
Streik auf der Lenin-Werft in Danzig im August 1980.© imago images / Forum
Drastische Preiserhöhungen für Lebensmittel haben im Sommer 1980 in vielen polnischen Städten eine Protestwelle in Gang gesetzt. Im Verlaufe von Wochen wächst daraus eine mächtige Opposition. Auch innerhalb der Partei findet sie schließlich Gehör. Das Regime gibt nach. Die Gesellschaft reagiert euphorisch.
"Am 31. August 1980 saß ich in Warschau mit meinen Freunden vom Alternativtheater 'Nicht bügeln' in einer Wohnung zusammen", erzählt Zbigniew Gluza. "Wir gaben konspirativ oppositionelle Schriften heraus. Als wir an diesem Tag im Staatsfernsehen sahen, wie Wałęsa auf der Danziger Werft seinen Sieg verkündete, waren wir so begeistert, dass wir auf den Balkon im 10. Stock die polnische Fahne hissten und Siegesrufe ausstießen. Dann nahmen wir die Fahne, gingen auf die Straße und sangen regimekritische Lieder."

"Ich konnte das kaum glauben"

Zbigniew Gluza, Journalist, Verleger, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Mitbegründer von Karta, einem Archiv zur jüngeren Geschichte Polens und Osteuropas. 1980 ist er 25 Jahre alt, gerade mit seinem Studium an der Technischen Hochschule fertig und schreibt an einem Buch über alternatives Theater.
"Von Lech Wałęsa hatte ich kurz zuvor erstmals in Radio Free Europe gehört", erzählt er. "Die hatten eine Reportage über die Danziger Lenin-Werft gesendet. Da war von einem Arbeiter die Rede, der sich auf die Seite der antikommunistischen Opposition schlägt. Ich konnte das kaum glauben. Die polnische Gesellschaft erschien mir zu diesem Zeitpunkt insgesamt sehr konformistisch, eingeschüchtert. Und da trat ein einfacher Mann auf den Plan – und dann noch so entschieden. Als man ihn dann zum Vorsitzenden der Solidarność wählte, erschien mir das ganz selbstverständlich. Alle Schichten der Gesellschaft, einschließlich der Intelligenz, dachte ich, sollten anerkennen, dass man mit einem Wałęsa als Anführer erfolgreicher gegen die Machthaber opponieren konnte als zuvor."

Was ist von Wałęsas Ruhm geblieben?

40 Jahre nach seinen legendären Auftritten hat Lech Wałęsa ein Büro im Europäischen Zentrum Solidarność auf dem Gelände der ehemaligen Lenin-Werft. Zehn Jahre lang war er der unangefochtene Chef der Solidarność. 1990 wählte ihn das Volk zum ersten Staatspräsidenten des freien Polen. Für seinen Freiheitskampf erhielt er den Friedensnobelpreis. Doch was ist ihm vom einstigen Ruhm geblieben?
Lech Wałęsa steht im T-Shirt vor einem Mikrofon. 
Auf dem T-Shirt steht "Verfassung": Lech Wałęsa spricht zum 40. Jahrestag des "Danziger Abkommens".© picture alliance / SOPA Images via ZUMA Wire / Mateusz Slodkowski
Auch wenn Wałęsa, Vater von acht Kindern, in vielen Fragen traditionell denkt, liegt er mit den derzeit in Polen herrschenden Nationalkonservativen der PiS-Partei über Kreuz. Sie, die sich selbst zu den eigentlichen Erben der Solidarność ausgerufen haben, greifen ihn, Wałęsa, an, bezeichnen ihn als kommunistischen Agenten, weil er Anfang der 1970er-Jahre kurz mit dem Geheimdienst zusammenarbeitete. Sie sehen ihn als Verräter der polnischen Sache.
Wałęsa wehrt sich. Um seinen Bauch spannt sich ein T-Shirt. Darauf steht das Wort "Verfassung". So protestiert er gegen den Abbau des Rechtsstaats durch die Nationalkonservativen. Sein einst markanter dunkler Schnauzbart ist eisgrau, das Gesicht gerötet.

Rebell aus bäuerlich-katholischem Milieu

"Ich habe mich damals Hals über Kopf in den Kampf gestürzt", erzählt er. "Nichts weiter hatte für mich Bedeutung, meine Frau nicht, meine Kinder nicht, nur der politische Kampf. Meine Frau war so erzogen, dass sie sich mit dem Haushalt zu beschäftigen hatte. Und ich musste dafür sorgen, dass alles funktionierte. So war die Rollenverteilung der Menschen vom Lande, und ich war ein Mensch vom Lande und sie auch."
Die Rebellion wuchs in ihm heran. In einem Dorf an der unteren Weichsel namens Popowo kam Lech Wałęsa 1943 zur Welt. Er stammt wie viele polnische Arbeiter aus einem bäuerlich-katholischen Milieu, in dem man das kommunistische System unter sowjetischer Hegemonie nie ganz anerkannte.
"Zu Hause auf dem Dorf wurde offen darüber gesprochen, dass man uns den Kommunismus aufgezwungen hatte", erinnert sich Lech Wałęsa. "So wurden wir erzogen und meine Generation grübelte die ganze Zeit darüber nach, wie wir das zurückgewinnen konnten, was unsere Eltern verloren hatten."
Als Lech Wałęsa zum Arbeiterhelden wurde, als er das kommunistische Establishment am 31. August 1980 zu nicht gekannten Kompromissen zwang, hing ein Rosenkranz um seinen Hals. Die Vereinbarung mit der Regierung, freie, staatsunabhängige Gewerkschaften zuzulassen, unterzeichnete er, demonstrativ vor den Fernsehkameras aus aller Welt, mit einem 40 Zentimeter langen Kugelschreiber. Darauf war das Bild des polnischen Papstes Johannes Paul II.
"Sie müssen verstehen: Wenn ich etwas anfange, mache ich es auch zu Ende", sagt Lech Wałęsa. "Wenn ich kämpfe, dann kämpfe ich bis zum Ende – so wie ich heute aus Protest dieses T-Shirt trage. Als mir damals jemand den Kugelschreiber zusteckte, habe ich eben mit dem Kugelschreiber gekämpft. Denn da war der Heilige Vater drauf. Und das war eine Demonstration gegen den Kommunismus. Alles, was sich mir anbot, habe ich für den Kampf gegen den Kommunismus genutzt."

Gewerkschaftsbewegung mit Vorgeschichte

Möglich wurde die Solidarność, weil sich in den Jahren davor unterschiedliche Gruppen zu einer Bürgerbewegung zusammengeschlossen hatten. Die Ablehnung des real existierenden Sozialismus einte alle. Proteste gegen das Regime hatte es auch vorher gegeben, zum Beispiel 1968. Doch 1968 waren es vorwiegend linke Studenten und Intellektuelle gewesen, die für Meinungsfreiheit und gesellschaftliche Reformen demonstrierten.
Die Parteiführung unter Władysław Gomułka hatte diesen Protest als antipolnische Agitation verurteilt. Revoltierende Kinder einer Elite jüdischer Herkunft wollten den polnischen Staat destabilisieren, hieß es pauschal und diskriminierend.
Zehntausende polnische Juden sahen sich dadurch gezwungen, das Land zu verlassen. Die antisemitische Propaganda der Partei brachte dem Regime ein wenig Popularität und verfing auch bei vielen Arbeitern.
Zwei Jahre später, im Dezember 1970, revoltierten Arbeiter in Danzig, Stettin und anderswo gegen die Erhöhung der staatlichen Preise für Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs. Sonderpolizei und Militär erstickten den Aufstand, es gab mehr als 40 Tote. Eine Unterstützung dieses Arbeiteraufstands durch kritische Intellektuelle blieb aus.
Der Arbeiteraufstand von 1970 brachte immerhin Parteiführer Władysław Gomułka zu Fall. An seine Stelle trat ein jüngerer Hoffnungsträger – Edward Gierek. Gierek gelang es, für ein paar Jahre den Konsum anzukurbeln. Dazu nutzte er Milliardenkredite – unter anderem aus Deutschland. Doch schon bald verpuffte der Aufschwung und die strukturellen Probleme der staatlichen Mangelwirtschaft waren zurück.

Arbeiter und Intellektuelle verbünden sich

1976 protestierten wieder Arbeiter, wurden gefeuert und landeten im Gefängnis. Doch diesmal gelang es zum ersten Mal, ein Bündnis zwischen den Arbeitern und einer bunt gemischten Schar von regimekritischen Intellektuellen zu schmieden.
Der DDR-Bürgerrechtler und Polen-Experte Wolfgang Templin hat es aus nächster Nähe erlebt.
"Ich bin im Spätsommer 1976 in Warschau angekommen", erzählt er. "Die vorhandene, aber zersplitterte intellektuelle Opposition gibt sich einen Ruck. Und Ende August formiert sich das Komitee zur Verteidigung der Arbeiterrechte KOR. Ganz breit gefächert, altersmäßig von Mitte 20 bis Ende 80, weltanschaulich wirklich von linkstrotzkistisch bis tief rechts konservativ, dazwischen liberaldemokratisch. Alles. Aber in einem Moment der Besinnung dieser wirklich sehr heterogenen Leute. Zusammengefasst: Aus mit den Grundsatzstreitigkeiten! Jetzt kommt es auf etwas anderes an, Geld, Rechtsanwälte, internationale Solidarität, Öffentlichkeit, Unterstützung der Arbeiter!"
Viele Mitstreiter im KOR, dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, kamen aus einer linken Tradition. Mit der katholischen Kirche oder den nationalen, konservativen Traditionen hatten sie wenig gemein.
"Heute könnte ich nicht mehr von mir sagen, dass ich ein Linker bin. Damals tat ich es pausenlos", erinnert sich Adam Michnik, hier bei einer Debatte 2014. Der Gründer und Chef der liberalen Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" stammt aus einer kommunistischen Familie mit jüdischen Wurzen.
Bereits als Jugendlicher betätigte er sich in einem "Klub der Widerspruchssucher" und geriet mit der Obrigkeit aneinander. Am Warschauer Studentenprotest 1968 war er maßgeblich beteiligt. Die antisemitische Kampagne zielte auch auf ihn. Doch Michnik blieb in Polen und landete wiederholt im Gefängnis. 1976 schloss er sich sogleich dem KOR an.

Die katholische Kirche als Partner

Als einer der ersten linken Dissidenten sah Michnik die katholische Kirche nicht als altmodisches Relikt an, sondern als Partner in einer künftig gemeinsamen Bürgerbewegung gegen die Unterdrückung durch das Regime.
"Zwischen kommunistischem Staat und katholischer Kirche gab es damals keine Partnerschaft", sagt Adam Michnik. "Die Kirche fürchtete, instrumentalisiert zu werden, wenn sie auf einen Dialog mit dem Staat einging. Und auch ich sagte mir, wenn ich gerade wieder von der Geheimpolizei verhört wurde: Mit den Funktionären eines solchen Staatsapparats kann es doch keinen Dialog geben. Denn die Machthaber suchten nicht nach der Wahrheit. Sie wollten mich zerstören. Dagegen gewann ich den Eindruck, die Kirche hätte mich zum Gespräch eingeladen. Von ihrer Seite spürte ich keine Feindseligkeit – vielleicht Misstrauen, aber keine Feindschaft."
Noch ein Ereignis stärkte die Opposition für ein freies Polen.
Am 16. Oktober 1978 wurde der Krakauer Erzbischof und Kardinal Karol Wojtyła zum Papst gewählt. In Polen schlug die Begeisterung hohe Wellen. Die Machthaber in Warschau reagierten nervös, zumal viele einfache Parteimitglieder auch gläubige Katholiken waren.
Besuch von Papst Johannes Paul II. in Polen, der Papst schreitet eine Militärformation ab.
Papst Johannes Paul II. besucht im Sommer 1979 erstmals seine alte Heimat.© picture-alliance / Sven Simon
Die Kommunisten büßten weiter an Glaubwürdigkeit ein, als der polnische Papst bald darauf, im Sommer 1979, erstmals durch seine alte Heimat pilgerte. 10 Millionen Landsleute erlebten ihn und wurden Zeuge seiner Botschaft: "Dein Geist steige hinab und verändere das Antlitz der Erde, dieser Erde!"
Jeder verstand, dass mit "dieser Erde" das durch die Gewaltherrschaften des 20. Jahrhunderts leidgeprüfte Polen gemeint war. Die Botschaft kam an.

"Der Papst hat die Entwicklung beschleunigt"

Lech Wałęsa ist bis heute davon überzeugt: "Ohne die Pilgergebete mit dem Papst hätte das System noch länger funktioniert. Und am Ende hätten wir Blut vergossen. Der Papst hat die Entwicklung beschleunigt. Er hat uns im Gebet organisiert, und den weiteren Verlauf kennen Sie ja."
Die Solidarność von 1980/81 war am Ende ein gigantischer Akt der gesellschaftlichen Selbstorganisation gegen die sowjethörige kommunistische Obrigkeit. Das Verlagswesen ohne Zensur blühte. Der Wissensimport aus dem Westen gab neue Impulse. Die Geschichte Polens wurde neu diskutiert, nicht nur auf elitären Podien, sondern in Millionen von Wohnzimmern.
Bis heute streitet man allerdings darüber, worin das Wesen der Solidarność lag und was ihre Macht in den Jahren 1980/81 wirklich befeuerte. Ging es darum, die unterdrückten Freiheiten der Bürger zu erringen und staatliche Willkür zu begrenzen – oder vor allem um eine gemeinsame Verbesserung des Lebensstandards? War die Solidarność ein ethischer Kanon für ein gemeinsames Handeln im Sinne des Christentums oder auch der Versuch, Polen aus der sowjetischen Hegemonie zu befreien, also eine Etappe im Kampf um nationale Unabhängigkeit?
Alle diese oft genannten Gesichtspunkte hatten ihre Bedeutung, zweifellos. Aber es gab auch Aspekte, über die heute kaum gesprochen wird. Die Solidarność war zu Anfang jedenfalls eine Bewegung für Arbeiterrechte und Demokratie am Arbeitsplatz, im Produktionsprozess. Darin lag ihr Erfolg.

Der Traum von der Arbeiterdemokratie

Davon ist jedenfalls Zbigniew Kowalewski überzeugt, Solidarność-Aktivist der ersten Stunde, zugleich bis heute Mitglied der IV. Trotzkistischen Internationale.
"Die Solidarność ist nicht aus dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter hervorgegangen und sie war keine demokratische Opposition gegen den Kommunismus", sagt er. "Ihr Ursprung liegt vielmehr im Arbeiteraufstand von 1970 in Danzig, Stettin und anderswo. 1970 hatte man drei Kampfformen erprobt, die man 1980 übernahm und über die heute niemand mehr spricht: Erstens: Streik als Betriebsbesetzung. Zweitens: Man koordiniert die Streiks zwischen verschiedenen Betrieben einer ganzen Stadt. Drittens: die Forderung nach freien Gewerkschaften. Das alles kommt nicht aus dem KOR, dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter. Das KOR hatte von einer Arbeiterdemokratie nur sehr verschwommene Vorstellungen."
Arbeiterdemokratie heißt für Kowalewski, dass sozialistische Staatsbetriebe von ihren Mitarbeitern geführt werden, dass die Belegschaft den Direktor wählt und über die Unternehmenspolitik bestimmt. Eine Gruppe um Kowalewski gewann innerhalb der Solidarność zunächst großen Einfluss. Auf dem Gewerkschaftskongress im Herbst 1981 setzte sie sich mit ihren Vorstellungen weitgehend durch. Auch diejenigen, die sich 10 Jahre später zum Neoliberalismus bekehren ließen, oder sich endlich offen dazu bekannten, trugen 1981 den linksrevolutionären Kurs mit.
Die Keimzelle der Demokratiebewegung war der Arbeitsplatz. Zugleich spürten alle in der Solidarność den Rückhalt der katholischen Kirche, die sich zu dieser Zeit nicht in politische Einzelfragen einmischte. Beide, Kirche und Arbeiter, beflügelte die Hoffnung, ein ideologisch erstarrtes, repressives, wirtschaftlich erfolgloses Regime zu reformieren. Dass dieses ungewöhnliche Experiment mitten im Ostblock, zwischen der Sowjetunion und der DDR, von einer geschwächten Parteiführung geduldet wurde, stärkte die Streiklust der Solidarność, machte sie immer verwegener.

Kriegsrecht und Verbot der Solidarność

Irgendwann war die Geduld der Staatsführung überstrapaziert. Doch auf die Parteibasis konnte sie nicht zählen, zu viele hatten sich dort für die Solidarność erwärmt. Es bedurfte eines Militärputsches. Der Parteichef General Wojciech Jaruzelski verhängte am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht über Polen. Er verbot die freie Gewerkschaft und internierte ihre Führer in Spezialgefängnissen. Auf die, die nun noch protestierten, ließ er schießen. Das Regime wollte seine Macht nicht abgeben.
Für die Solidarność war das Kriegsrecht ein Schlag, der sie zwar für immer zeichnete, aber auch bis heute adelt. Doch damals in die Illegalität verbannt, verlor sie ihren Rückhalt in den Betrieben. Von 10 Millionen Mitgliedern blieb eine kleine Minderheit im Untergrund übrig: von aller Repression unbeeindruckte Aktivisten, Künstler und Intellektuelle. Unterstützung erfuhren sie oft nur noch durch die katholische Kirche.
Der Journalist und Verleger Zbigniew Gluza erinnert sich: "Dieses Theater 'Nicht bügeln', zu dem ich damals gehörte, bekam einen Raum in einer Warschauer Kirche. Im Keller hielten wir unsere Sammlung illegaler Drucke versteckt. Wir trafen uns einmal wöchentlich in diesen Katakomben, tauschten die Bücher aus. Mit den Priestern hatten wir keinen Kontakt. Es ging nicht um Religion, sondern einfach um diesen Freiraum. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen. Aber damals gab es diese Solidarität. Alle, die gegen den autoritären Staat aufbegehrten, fühlten sich untereinander verbunden. Und das war das Fundament unserer gewaltlosen Revolution von 1989."

Schwarzhandel und leere Läden

In der zweiten Hälfte der 80er-Jahre wurde allmählich klar: Der Kommunismus besaß in seiner bisherigen Form keine Zukunft mehr. In der Sowjetunion experimentierte eine neue Parteiführung um Michail Gorbatschow mit Reformen. In Polen versank die Wirtschaft im Chaos. Schwarzhandel und Schattenwirtschaft blühten. Die staatlichen Läden waren leer.
Die massenhafte soziale Notlage der Menschen gab der Solidarność im Untergrund neuen Auftrieb. Aber sie war nicht mehr die Alte. Wanda Nowicka, Jahrgang 1956, trat 1980 bei. Heute ist sie eine der bekanntesten Feministinnen Polens und Frauenpolitikerin der Linken im polnischen Parlament.
Die polnische Politikerin und Aktivistin Wanda Nowicka spricht in ein Mikrofon.
Politikerin und Aktivistin: Wanda Nowicka bei einer Sondersitzung des Sejm im April 2020© imago images / Eastnews
"Die zweite Solidarność, die sich seit Mitte der 80er-Jahre neu bildete, war eine ganz andere Solidarność", erzählt sie. "Da ging nichts mehr ohne katholische Rituale. Man versuchte alle Strömungen zu eliminieren, die nicht mit den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Kirche übereinstimmten."
Große Teile der katholischen Kirche, allen voran der polnische Papst Johannes Paul II., aber auch viele Priester in den Gemeinden hatten sich für die Solidarność im Untergrund ins Zeug gelegt, teils mit dem Kalkül, über die Solidarność künftig selbst politischen Einfluss ausüben zu können. Es ging vielen Bischöfen vor allem um: ein Abtreibungsverbot, die Verankerung der Religion an den Schulen und Staatsgeld für die Kirche. Es ging ihnen nicht um die Trennung von Kirche und Staat und nicht um eine offene Bürgergesellschaft.

In der Dankbarkeitsfalle gegenüber der Kirche

Als sich die Solidarność-Anführer 1989 mit den reformbereiten Kommunisten an den runden Tisch setzten und um die Macht pokerten, saßen auch Vertreter der katholischen Kirche dabei. Politiker und Bürgerrechtler einigten sich mit ihnen auf die Durchsetzung der Volkssouveränität, ein Mehrparteiensystem, freie Medien und die Wiederzulassung der Solidarność.
Dabei sah sich die Solidarność gegenüber der Kirche auf einmal in der Dankbarkeitsfalle und trug nun auch mit, was manchen Vertretern Bauchschmerzen bereitete. So stimmte der Delegiertenkongress der Solidarność 1990 für eine Verschärfung des Abtreibungsrechts.
Zwar stellten Frauen 50 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder, aber nur 10 Prozent der Delegierten. "Mann" überging sie. Bald darauf ließ die Führung der Solidarność ihre eigene Frauenkommission auflösen. Die katholische Kirche wollte mithilfe der Solidarność die Rolle der kommunistischen Partei übernehmen, glaubt Wanda Nowicka.
"Die Kirche wusste, dass ein Umbruch bevorstand", erklärt sie. "Deshalb schuf sie Strukturen, bereitete Menschen und Mittel vor, um den Platz der kommunistischen Partei einnehmen zu können. Die Ideologie der Arbeiterpartei verschwand. Nun sollte die Religion alles erklären. So kam es, dass man die Solidarność, die in ihrem Ursprung eine Bewegung ganz unterschiedlicher Kräfte war, heute so darstellt, als hätte sie ohne Kirche und Papst gar nicht existieren können. Das verzerrt die Wahrheit. Doch die demokratische Opposition hat sich damals von der Kirche manipulieren lassen. Sie hat die Rechte der Frauen verkauft."

Hinwendung zu neoliberalen Ideen

Auch in einer anderen, für eine Gewerkschaft fundamentalen Frage, drehte sich die Solidarność nach 1989 um 180 Grad. Sie nahm von allen einstigen Ideen zur Arbeiterselbstverwaltung und Demokratisierung der Betriebe Abstand. Stattdessen unterstützte sie, nur mitunter murrend, die Privatisierung der Produktionsmittel und den Einzug des Neoliberalismus ins neue Polen.
"Lech Wałęsa und andere überzeugte man, dass eine brutale Vorgehensweise erforderlich sei", sagt Zbigniew Kowalewski. "Denn die Wirtschaftsmisere habe ein solches Ausmaß erreicht, dass binnen zwei Monaten keine Löhne mehr ausgezahlt werden könnten. Wenn Polen sich nicht in das globale kapitalistische System einfüge, sei es nicht mehr zu retten. Dann werde die Katastrophe eintreten. So hat man die Gewerkschafter überzeugt. Zugleich gab es keine politische Kraft, die sich der Entwicklung entgegengestellt hätte."
Frühere Solidarność-Kämpfer gründeten nach 1989 eine Vielzahl von Parteien, linksliberale und rechtsnationale. Keine von ihnen tat etwas gegen die rasant wachsenden Einkommensunterschiede. Keine interessierte sich mehr für Mitbestimmung in den Betrieben, geschweige denn für eine Arbeiterselbstverwaltung. Alle glaubten an die heilende Kraft des Marktes. Nicht ganz ohne Grund.
Denn nachdem Polen den brutalen Systemwechsel Anfang der 1990er-Jahre, geprägt von Hyperinflation und Rekordarbeitslosigkeit, erst einmal bewältigt hatte, ergaben sich Jahr für Jahr hohe Wachstumsraten. Auch wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr öffnete, bekamen vom polnischen Wirtschaftswunder doch fast alle etwas ab – kein gutes Klima für den Kampf um Arbeiterrechte. Die Gewerkschaft Solidarność verzeichnet 40 Jahre nach ihrer Gründung knapp 700.000 Mitglieder. 1980/81 waren es zehn Millionen gewesen.

Demonstrative Nähe zu PiS-Regierung und katholischer Kirche

Die Solidarność von heute stützt die nationalkonservative PiS-Regierung und demonstriert ihre Nähe zur katholischen Kirche. Demokratie und Bürgerrechte sind kein Thema. Die Ideen der einstigen Solidarność, der legendären Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegung, die von Danzig aus Polen und die Welt veränderten, leben dennoch weiter, nur woanders, glaubt Wanda Nowicka.
Als Parlamentsabgeordnete nimmt sie derzeit an vielen Protesten auf Polens Straßen teil – gegen die nationalkonservativen PiS-Machthaber.
Schüler mit teils bunten Haaren tragen Regenbohnenfahnen und halten Schilder mit Parolen hoch.
Protest vor dem Kultusministerium in Warschau aus Solidarität mit der LGBT-Bewegung: Die Ideen der einstigen Solidarność leben weiter, sagt Wanda Nowicka.© imago/Eastnews
"Für mich und andere ist der Mythos der ersten Solidarność sehr wichtig", sagt sie, "denn er verkörpert Freiheit, Autonomie und die Mitbestimmung der Bürger in ihrem Staat. Egal ob Arbeiter, Frauen oder andere Milieus, es geht doch immer um das Gleiche – dass die Menschen nicht als passive Objekte der Politik und des Staates behandelt werden, und darum, dass die Bürger dieses Landes gemeinsam über die Zukunft des Staats entscheiden. In diesem allgemeinen Sinne sind wir stolz darauf, dass es die Solidarność gab und dass sie Europa verändert hat."
Auf das Erbe der Solidarność berufen sich heute alle großen politischen Lager Polens. Die regierende nationalkonservative PiS-Partei betont dabei den Kampf um die nationale Unabhängigkeit, während die Liberalen in Opposition zur PiS die demokratische Verfassung und die Annäherung an Westeuropa hervorheben.
Linke soziale Bewegungen orientieren sich am zivilen Ungehorsam, den die Gewerkschaft in den 80er-Jahren praktizierte. Wie auch immer: Die absolute Mehrheit der Polen ist laut einer aktuellen Umfrage überzeugt, dass das Erbe der Solidarność von allen Menschen wachgehalten werden sollte. Nur eine Minderheit glaubt, man dürfe es den Historikern überlassen.

Autor: Martin Sander
Es sprechen: Wolfgang Condrus, Robert Levin, Anika Mauer, Frauke Poolman
Technik: Sonja Rebel
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Susanne Arlt, Winfried Sträter

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