Aufstieg an die Spitze eines Familienclans

Rezensiert von Henning Klüver · 16.01.2011
Die Mafia ist eine Männergesellschaft. Frauen werden in der Regel darin nicht aufgenommen. Aber es gibt Ausnahmen wie Giuseppina Vitale. Sie erzählt in dem Buch "Ich war eine Mafia-Chefin" von ihrem Aufstieg an die Spitze eines Familienclans.
"Die Atmosphäre bei uns zu Hause war immer angespannt, angsterfüllt; wir lachten fast nie. Vor allem wir Frauen hockten da und warteten auf die Heimkehr unserer Männer, ungewiss, in welcher Stimmung sie nach Hause kommen würden."

Giuseppina, "Giusy", Vitale erzählt von ihrer Familie. Vater, Mutter, drei größere Jungs und die zwei kleineren Mädchen Giusy und Nina leben in Partinico, einer sizilianischen Kleinstadt im Hinterland von Palermo. Besonders die drei Jungen Leonardo, Vito und Michele Vitale wachsen in einem gewalttätigen Umfeld auf.

Sie verachten die Feldarbeit auf dem kleinen Landbesitz ihres Vaters und schließen sich der örtlichen Mafia, der Cosa Nostra an. Es sind Quereinsteiger, die mit Gewalt an die Spitze der Organisation kommen wollen. Gewalt ist für sie ein Kommunikationsmittel, wie für andere Leute die Sprache.

"Wenn bei ihrer Rückkehr irgendetwas nicht in Ordnung war oder nicht alles so gemacht worden war, wie sie es angeordnet hatten, war der Ärger vorprogrammiert. Nina, die Ältere und Gutmütigere von uns beiden, war ihr bevorzugtes Ventil. Sie schlugen sie aus den nichtigsten Anlässen. Einmal prügelten Michele sie, nur weil sie ein bisschen Lidschatten aufgelegt hatte."
Giusy, die jüngste der Familie, 1972 geboren, himmelt ihre älteren, kraftstrotzenden Brüder an. Und die adoptieren ihre kleine Schwester gleichsam, als wäre sie ihr Kind. Giusy wächst an ihrer Seite auf. Übernimmt erste Handlangerdienste. Lernt schießen. Erledigt Abrechnungen zunächst der legalen Geschäfte und dann auch der illegalen.

Setzt die Befehle der Brüder um, als sie ins Gefängnis kommen oder versteckt auf dem Land leben. Sie arbeitet sogar weiter für Leonardo, Vito und Michele, als sie selbst längst verheiratet ist und zwei Kinder hat. Im April 1998 wird auch Vito, der letzte der Brüder des sogenannten Fardazza-Clans, verhaftet. Wer sollte jetzt die Geschäfte führen?

"Die Lösung lieferte Leonardo, der vom Gefängnis aus alle wissen ließ, dass ich die Fardazza vertreten würde, dass der Bezirk nicht herrenlos sei, sondern dass er und Vito für mich geradestanden. Ich war die ersten Frau in der gesamten Geschichte der Mafia, die ein Amt mit so viel Verantwortung innehatte."

Giusy Vitale, die sich von der kleinen Schwester zur Clanchefin entwickelt, war allerdings nicht die erste Frau in dieser Rolle. Bereits in den 1980er Jahren konnte etwa Angela Russo in Palermo verhaftet werden. Eine rüstige Siebzigjährige, die den Drogenhandel ihrer Familie organisiert hatte.

Und 1995 ging der Polizei Maria Filippa Messina ins Netz, die drei Jahre lang nach der Verhaftung ihres Mannes seinen Clan geführt und mehrere Morde auf dem Gewissen hatte. Auch Giusy Vitale gibt auf Befehl ihrer Brüder einen Mord in Auftrag. Doch schon im Juni 1998 schließen sich auch hinter ihr die Gefängnistore.

Ein paar Jahre später beginnt sie auszusagen und wird "reuige" Mitarbeiterin der Justizbehörden. Nach der Abbüßung einer Gefängnisstrafe lebt die heute 38jährige zusammen mit ihren Kindern, den Regeln des sogenannten Zeugenschutzprogramms entsprechend, an einem unbekannten Ort. Für ihre Brüder ist sie längst tot.

"Ich habe gehört, dass eine ehemalige Blutsverwandte mit der Polizei kollaboriert. Wir sagen uns von ihr los, ob lebendig oder tot, was sie hoffentlich bald sein wird. Sie ist ein giftiges Insekt."

Die Journalistin Camilla Costanzo hat Giuseppina Vitale besucht und sich von ihr das Leben erzählen lassen. Angeblich aus Liebe zu ihren Kindern hat sich Giusy von der Mafia los gesagt. Aber in dem Buch spürt man kaum etwas von der Einsicht, falsch gehandelt zu haben. Es waren die Umstände und das Leben in der Familie, die ihr keine andere Wahl gelassen hatten.

Im Text erfährt man auch wenig über die Cosa Nostra, ihre Strukturen und noch weniger über die Geschäfte und Verbrechen der Familie Vitale. So als wollte Giusy heute noch ihre Brüder schützen. Camilla Costanzo schreibt deshalb in einem Nachwort über die Zusammenarbeit mit ihr:

"Im Laufe der Zeit haben wir ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, ohne das dieses Buch nicht möglich geworden wäre. Ein Vertrauen, das wir niemals ausgenutzt haben. Das ist kein Buch über die Mafia. Dies ist die Geschichte einer Frau."

Man hätte sich jedoch ein genaueres Lektorat der deutschen Ausgabe gewünscht. Partinico ist eine Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern, kein Dorf. Bernardo Provenzano ist der Nachfolger des Paten Totò Riina, nicht sein Vorgänger. Und viele Namen und oft nur angedeutete Vorgänge bleiben für den deutschen Leser unverständlich.

Ein klärendes Zusatzkapitel wäre hilfreich gewesen. Dennoch bietet das Buch einen interessanten Einblick in die Psyche einer Frau, die in das organisierte Verbrechen verwickelt ist. Und das völlig normal findet.


Giuseppina Vitale: Ich war eine Mafia-Chefin. Mein Leben für die Cosa Nostra
Deutsch von Julia Eisele. Deutsche Verlags-Anstalt, München.
192 Seiten, 17,95 Euro.
Cover: "Giuseppina Vitale: Ich war eine Mafia-Chefin"
Cover: "Giuseppina Vitale: Ich war eine Mafia-Chefin"© Deutsche Verlags-Anstalt