#Aufstehen und Dienstpflicht

Solidarität statt Egotrip

Forever together: Ein Wandbild beim 40 Grad Urban-Art-Festival in Düsseldorf zeigt zwei zusammengewachsene Figuren.
Gemeinsam für das allgemeine Wohl und gegen Ungerechtigkeit: ein Wandbild beim 40 Grad Urban-Art-Festival in Düsseldorf © imago / imagebroker
Philosophischer Kommentar von Arnd Pollmann · 12.08.2018
Konservative fordern die Rückkehr zur Wehrpflicht. Linke werben für die neue Sammlungsbewegung #aufstehen. So verschieden die Ansätze sind, es geht ihnen doch ums Gleiche, kommentiert Arnd Pollmann: um mehr Gemeinschaftssinn.
Immanuel Kant hat einst die leicht skurrile These vertreten, dass der Mensch in "zwei Welten" zugleich lebe und zwischen diesen Welten hin- und hergerissen sei: Als Teil der sogenannten Sinnenwelt sind wir empirische Wesen mit egoistischen Trieben und Neigungen. Als Bewohner der Verstandeswelt hingegen sind wir vernunftfähige Geschöpfe mit Moral und dem Vermögen, von unseren eigennützigen Neigungen reflexiv Abstand zu nehmen. Zum Beispiel beim politischen Dauerthema "Steuern": Der empirische Sinnenmensch zahlt diese Abgaben äußerst ungern, er würde das Geld lieber für Dinge, die Spaß machen, ausgeben. Aber der Vernunftmensch in uns weiß, dass Steuern notwendig sind, weil das Gemeinwesen sonst zusammenbräche. Ähnliches gilt etwa für die solidarische Finanzierung eines Gesundheits- oder Pflegesystems oder auch für Pflichten der militärischen Landesverteidigung: individuell oft eine Zumutung, aber gesellschaftlich notwendig und auch vernünftig.

Das neue Pflichtbewusstsein

Es ist diese Einsicht, in der sich die konservative Dienstpflicht-Debatte und die linke Sammlungsbewegung #aufstehen treffen. Beide teilen die folgende Zeitdiagnose: Die Gesellschaft driftet auseinander! Wo man hinschaut: zu viel Egoismus, zu viel Anspruchsdenken oder – kantisch gesprochen – zu viel Sinnenwelt. Und folglich: zu wenig bürgerschaftliche Pflichten, zu wenig Gemeinsinn, tätige Solidarität und damit moralische Verstandeswelt. Beide Interventionen wollen dieser Erosion entgegenwirken, und sie ergänzen sich: Die linke Sammlungsbewegung organisiert den gemeinsamen Kampf gegen "die da oben" und appelliert an solidarische Pflichten gegenüber Schwächeren. Die Dienstpflicht-Debatte hingegen soll für ein biografisch frühes Engagement im Dienste der Allgemeinheit sorgen. Hier geht es um intergenerationelle Pflichten der Jugend gegenüber Älteren.

Das Recht, in Ruhe gelassen zu werden

Obwohl Kritikerinnen dies gern behaupten: Wir haben es keineswegs mit einer Sommerloch-Debatte zu tun, sondern mit einem denkbar grundlegenden Streit um die richtige politische Leitnorm. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hat die umkämpften Alternativen bereits im Jahr 1887 auf den Gegensatz von "Gemeinschaft und Gesellschaft" gebracht. Die zentrale Frage lautet: Stellen wir uns unser Gemeinwesen als res publica vor; als eine gemeinsam verantwortete "öffentliche Sache", geeint durch eine kollektive Identifikationsidee? Für dieses republikanische Modell steht bei Tönnies der Begriff "Gemeinschaft". Und sowohl die Dienstpflicht-Debatte als auch die Sammlungsbewegung #aufstehen streben, bei allen Differenzen, eine solche republikanische Gemeinschaft an. Oder favorisieren wir das Modell "Gesellschaft"; die Vorstellung einer instrumentellen Zweckgemeinschaft autonomer, atomisierter Individuen, die vor allem auf ihr individuelles Recht pochen dürfen, von anderen "in Ruhe gelassen zu werden"? Diese letzte Position wird heute auch "Libertarismus" genannt. Man plädiert für maximale Willkürfreiheit und lehnt den steuerfinanzierten Sozialstaat ebenso ab wie bürgerschaftliche Pflichten, etwa in Bezug auf Pflegenotstände, Feuerwehr oder Landesverteidigung. Wer diesen Schutz haben möchte, soll halt selbst dafür bezahlen!

Ohne Gemeinsinn keine Gemeinschaft

Um genau diese Differenz geht es: Republikanismus oder Libertarismus? Gemeinschaft oder Gesellschaft? Citoyen oder Bourgeois? Die Entscheidung mag auch deshalb schwer fallen, weil in beiden Fällen Gefahren drohen: Der Libertarismus setzt zu wenig soziale Bindungskräfte frei, der Republikanismus vielleicht zu viel, und zwar auf Kosten individueller Freiheit. Trotzdem würden Republikaner wie Kant und Tönnies die derzeitigen Diskussionen begrüßen. Denn wer den Menschen libertär auf dessen zweckrationale Bedürfnisstruktur reduziert, behandelt ihn schlicht unter seiner Würde als einem moralfähigen Zoon politicon. Man muss nicht unbedingt ein Anhänger der alten Wehrpflicht sein. Aber ganz ohne bürgerschaftliche Tugendpflichten ist kein lebenswertes Gemeinwesen zu haben.
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