Aufsätze & Ansichten

Die intellektuelle Vagabundin

Die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt
Die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt © picture alliance / dpa / Alejandro Garcia
Von Katrin Schumacher · 13.03.2014
In ihrem neuen Essayband erweist sich die New Yorkerin Siri Hustvedt einmal mehr als elegante Erzählerin. Gelehrt plaudert sie sich durch die Wissenschaften und ihre eigene Biografie.
Die Zahnspange ist angepasst, der Akt war brutal und einschneidend. Die Elfjährige sitzt mit schmerzendem Mund und verweintem Gesicht im Fond des Wagens. Plötzlich hält der Vater an einer Tankstelle, steigt aus, kommt zurück mit einer Schachtel, die er der Tochter wortlos überreicht: Weinbrandkirschen in Schokolade. Seine Lieblingssüßigkeit. Eine komische, ergreifende, liebevoll-hilflose Geste gegenüber der leidenden Tochter – und eine Szene, mit der Siri Hustvedt aus der eigenen Erinnerung erzählt, um ihre Gedanken über die komplexe Beziehung zwischen Vätern und Töchtern zu illustrieren.
In ihren Essays ist sie immer präsent: als Tochter, Mutter, Patientin, Lehrerin, Geliebte, Ehefrau, Schriftstellerin. Das Schreiben in der ersten Person ist für Hustvedt zugleich eine philosophische Position: Niemand, so schreibt sie, kann seiner Subjektivität entgehen. Und so ist immer ein Ich oder ein Wir in einem Text vorhanden, egal, wie gut es sich verbirgt. Solcherart mäandernd, zwischen Eigenem und Theoretischem, psychologischer Analyse und literarischer Beobachtung lesen sich die 32 Aufsätze und Vorträge, die in Siri Hustvedts neuem Band versammelt sind. Neben ihren fünf Romanen hat die Autorin immer auch Essays geschrieben – und während ihre Belletristik wissenschaftliche Fragestellungen von Psychoanalyse, Neurologie bis Kunsttheorie in sich trägt (zugegeben, dies manchmal etwas bemüht), leben ihre Essays wiederum vom eleganten Erzählen.
Manchmal fragt sie wie ein Kind
Diese Essays, zwischen 2006 und 2011 entstanden, sind geordnet zu einem Triptychon. Die Texte des ersten Teils, in denen es um "Leben" geht, sind die persönlichsten, sind Beobachtungen geschuldet, die direkt mit der Biografie der 1955 geborenen Autorin verknüpft sind. Ihr Migräneleiden, das schon in ihrem 2010 erschienenen Sachbuch "Die zitternde Frau" Thema war, die Trauer über den Tod ihres Vaters, Gedanken über das Begehren, die intellektuelle Ehe, die sie mit ihrem Mann Paul Auster kultiviert – all dies findet sich hier auf universelle Ebene gehoben. Mal sind es die großen Fragen, die sie umtreiben ("Erschaffen zwei Personen zwischen sich eine dritte Realität?"), mal sind es verblüffende, fast kindliche Wahrnehmungsphänomene, denen sie nachgeht ("Ich sehe viel weniger von mir als andere").
Wiederholt interessiert sie dabei die Schnittstelle zwischen Gehirn und Geist, die neurobiologische Begründung unseres Bewusstseins. Im dritten Teil des Buches, überschrieben mit "Schauen", versammelt sie in eben dieses Spannungsfeld gesetzte Kunstbetrachtungen unterschiedlichster Art, von Goya bis zu Louise Bourgeois. Das Herzstück dieses Bandes sind allerdings die Essays des zweiten Teils. Hier führt Siri Hustvedt in ihre Schreibwerkstatt, erzählt, aus welchen fiktiven und realen Komponenten sie ihre Figuren und Handlungen komponiert, sinniert über das Lesen und macht sich stark für den notwendigen Dialog zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften.
Das Schriftstellerehepaar Siri Hustvedt und Paul Auster in New York
Das Schriftstellerehepaar Siri Hustvedt und Paul Auster in New York© AP Archiv
Das Wesen des Essays ist der Versuch. Die Spekulation und das der Denkbewegung entsprechende Tasten, der Wechsel zwischen Abschweifung und Konzentration. Der Essay begeht seit jeher Grenzgänge zwischen schöner und analytischer Literatur, und negiert bestenfalls eine scharfe Grenzziehung. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Siri Hustvedt beherrscht jene Gattung, indem sie jede Grenze per se unterläuft. Und so lesen sich ihre Essays als hoch inspirierendes intellektuelles Vagabundieren, als Eintritt in ein Gespräch, das die Erzählerin mit sich führt, und in das sie hineinzieht. Wobei dies konsequent dazu führt, dass die Leserin in ein Gespräch mit sich selbst gerät, nicht anders kann, als dieser Versuchung nachzugeben.

Siri Hustvedt: Leben, Denken, Schauen. Essays
Rowohlt Verlag
490 Seiten, 24,95 Euro.

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